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Randbemerkungen zur woche

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DER NATIONALRAT HAT IN ÜBERRASCHEND KURZER ZEIT aus einer Situation, in welcher seine Auflösung in greifbare Nähe gerückt war, zu sachlicher Arbeit zurückgefunden. Viel hat — unbemerkt und nicht kommentiert — dazu eine Sitzung des Ausschusses für Verfassung und Verwaltungsreform beigetragen, der an die Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes, Verwaltungsgerichtshofes, des Obersten Gerichtshofes sowie an den Präsidenten der Rechtsanwaltskammer die Einladung zur Teilnahme an einer Ausschußberatung ergehen ließ. Im Verlauf dieser Beratungen warfen die Abgeordneten der Koalitionsparteien — in einsichtsvoller Bereitwilligkeit, sich von den obersten Hütern der Rechtsordnung Belehrung und Anleitung für ihre Tätigkeit zu holen — die Frage auf, was „der Gesetzgeber Nationalrat“ alles tun müßte, damit Unstimmigkeiten in der Rechtsprechung in Zukunft vermieden werden. Das Parlament erlebte die Genugtuung, daß steh der Präsident des Obersten Gerichtshofes der immer wieder aufgestellten Behauptung, die Gesetze von heute seien schlechter als früher, nicht anschloß. Auch der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes wies darauf hin, wie sehr zur Zeit die Gesetzgebung durch die Abhängigkeit von der Genehmigung des Alliierten Rates beeinflußt ist und daher unter Umständen zur Abänderung ihrer ursprünglichen Beschlüsse gezwungen wird, die an sich unserer Rechtsordnung und dem österreichischen Rechtsdenken viel gemäßer wären. So geht der Nationalrat nun an die politische Frühjahrsarbeit. Sie wird in diesem Jahr mehr Sorgen als in den vergangenen bereiten. Dem Vernehmen nach klafft in der Gebarung des laufenden Budgetjahres eine Lücke von über 1,5 Milliarden Schilling! Die Erhöhung der Mineralölsteuer ist nur ein Anfang einer Reihe von Maßnahmen, die zur Beseitigung oder wenigstens Verringerung des Budgetdefizits ergriffen werden müssen. Tariferhöhungen der Bundesbahnen scheinen unausbleiblich zu sein, wenn auch ihre Folgen für die gesamte Wirtschaft noch nicht abgesehen werden können. Schließlich steht die Weiterführung beziehungsweise Umstellung der Investitionen zur dringlichen Beratung. Hoffen wir, daß sich in diesen Tagen durch einsichtsvolle, leidenschaftslose, aber gründliche parlamentarische und außerparlamentarische Verhandlungen die Bewältigung der Probleme finden wird. Von ihr hängen sozialer Friede, wirtschaftliche Ordnung und nicht zuletzt auch innerpolitische Stabilität ab. Und das ist nicht wenig.

ALT IST DIE KULTURKLAGE, nicht nwr in unseren Landen. Kein Mann des Geistes, kein Forscher und kein Poet kann konkurrieren mit einem Fußballer, mit einer Skiläuferin, mit einem filmenden Wunderkind oder Wundertier: 100 gegen 1 stehen gegen ihn die Schlagzeilen, die Schlangen der Wartenden an den Kassen der Kinos, des Stadions. Viele Gründe gibt es, diese Situation zu erklären. Soeben hält uns aber das Statistische Zentralamt einen vor, der gesondert zu denken gibt. Österreich besitzt heute 61.539 Mittelschüler. Von je hundert besuchen aber zu Beginn dieses Schuljahres nur mehr 19 ein Gymnasium. Das ist eine deutliche Sprache. Grob herausgesagt heißt das: jener Schultyp, der sich die Pflege des Worts, die Heranführung seiner Schüler zum Geist, zu den Geisteswissenschaften zur ersten Aufgabe gemacht hat, zieht heute nicht einmal ein Viertel der Schüler an. Wenn wir diesen minimalen Prozentsatz vergleichen mit den Massen, die jahraus, jahrein die Berufsschulen, die technischen, gewerblichen und kaufmännischen Fortbildungsanstalten verlassen, die doch vorwiegend der Zahl, dem Sinn für Quantität, für Maße und Massen, für materielle Spannungen, Verhältnisse und Bewegungen verschworen sind, wird die Sache bedenklich. Das Spiel, das hier augenscheinlich der Humanismus verloren hat, und zwar sowohl in seiner weltlichen wie in seiner geistlichen Observanz (die geringe Anzahl der Theologiestudenten hängt nicht zuletzt auch an diesem fatalen Proporz), wird neu gewagt werden müssen: in einer Realisierung der Gymnasien, in einer Humanisierung unserer „realistischen“ Lehr- und Fachanstalten, soll uns allen nicht sowohl der Wirklichkeitssinn abhanden kommen, der die Maße der Quantität und der Qualitäten zusammenschaut wie der Humanismus, der aus Technikern, Wirtschaftern, Ingenieuren, Baufachleuten, Spezialisten aller Art Menschen macht, die eines Geistes in einer Gemeinschaß sind.

ZWANZIG JAHRE waren es in diesem Monat, daß ein einsamer und verbitterter Mann, auf den sich einmal die Hoffnungen Europas gründeten, gestorben ist: Aristide Briand. „Friede“ war die Losung seines Lebens gewesen, „Paneuropa“ die logische Folgerung. Am Beginn seiner politischen Laufbahn stärkte der Pazifist Briand den Widerstandswillen des französischen Volkes als Justizminister unter Poincarė, ibeil er begriff, daß dieses sich verteidigen mußte. Er trat aber ab, als er sah, daß der französische Chauvinismus nach Vergeltung, nicht nur nach Verteidigung schrie. Briand war es, der sich zum Mittler der Friedensfühler Österreichs, der Vorschläge der Reichsregierung, der Vermittlungsversuche des Vatikans machte, und er mußte es erleben, von den haßerfüllten Nationalisten verdächtigt zu werden. Als der Chauvinismus links des Rheins abgeklungen war, berief man Briand — zum siebenten Mal — zum Regierungschef. Aber erst Jahre später war die Zeit reif, den ersten Schritt zum großen Ziel zu machen, das Frieden bedeutete und Europa hieß. Briand streckte Deutschland die Hand zur Verständigung hin, und er fand dort einen Partner, der von denselben hohen Idealen erfüllt und sich der Schwierigkeiten ihrer Ausführung voll bewußt war: Dr. Gustav Stresemann. Aus der politischen Zusammenarbeit entwickelte sich eine enge persönliche Freundschaft der beiden Propheten europäischer Einigung. Solange sie lebten, schien tatsächlich der berühmte Silberstreifen am Horizont aufzütauchen. Der Friedens-Nobelpreis war für beide die höchste Anerkennung. Briand ging weiter. Der Briand-Kellogg-Pakt sollte den Krieg als Mittel der Politik ein für alle Mal ausschalten — es war nicht Briands Schuld, daß er schon bei der Unterzeichnung zur Farce abgesunken war. Und dann kam sein letztes Projekt. Die Einigung Europas. In Paris wie in Genf erlebte Briand Stürme der Zustimmung, als er die Forderung nach Paneuropa aufstellte. Der schwerkranke Stresemann stimmte begeistert zu. Benesch zeigte sich skeptisch. Der italienische Vertreter enthielt sich der Stimme — der britische Außenminister Henderson schwieg. Briand stand vor einer Mauer von Schwierigkeiten. Als Stresemann starb, war auch Briands Kraft gebrochen. Stresemann und Briand sind gescheitert. Adenauer und Sčhuman sind in ihre Wege eingebogen. Wieder ist es die Uneinigkeit der eigenen wie der ändern Völker, die ihnen beinahe unüberwindliche Hindernisse aufbaut.

DER SPANISCHE AUSSENMINISTER HAT REISEPLÄNE. Minister Arta jo will in kurzer Zeit eine Rundfahrt zu den arabischen Staaten des Nahen Ostens an- treten. Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Irak, Syrien und der Libanon werden die Stationen sein. Die Regierungen dieser sechs Länder haben Artajo eingeladen, um mit ihm gleichlaufende Maßnahmen zu internationalen Fragen von gemeinsamem Interesse zu beraten. In Spanien hofft man, daß hiebei Handels- und Freundschaftsverträge mit Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien abgeschlossen werden würden, wie solche jetzt schon zwischen Spanien und den drei anderen oben genannten Ländern bestehen. Auch soll geplant sein, Spanien ständige Teillieferungen aus dem Nahen Osten zu sichern. Diese Reise ist als Teil der von Spanien mit Konsequenz und Erfolg gepflegten Politik des guten Einvernehmens zu den arabischen Staaten zu betrachten. Während der Spanier die Pyrenäen traditionell als ein Bollwerk gegen den nördlichen Nachbarn betrachtet, ist für ihn die Straße von Gibraltar kein Hindernis und keine Grenze. Gibt es doch südlich dieser Meerenge Gebiete, die seit alters her zum spanischen Mutterland gehören, wie Ceuta und Melilla. Wie weit die Annäherung Spaniens zu den islamitischen Staaten bereits gediehen ist, geht daraus hervor, daß die Arabische Liga Spanisch - Marokko nicht zu den Ländern zählt, die von einer Fremdherrschaft befreit werden müßten, während Französisch - Marokko zu ihnen rechnet. Diese freundliche Haltung stützt sich wohl auch darauf, daß Spanien in dem seinem Protektorat unterstehenden Teil des Scherifenreiches alljährlich etwa hundert Millionen Peseten für kulturelle und wirtschaftliche Zwecke aufwendet. General Franco ist von einer malerischen Leibwache von „Moros“ umgeben — die Tage der blutigen Rifkriege scheinen vergessen zu sein. Aber selbst wenn Spanien im Zuge einer weiteren Entwicklung vielleicht genötigt sein sollte, dieses Protektorat aufzugeben: die islamisch-spanische Freundschaft ist heute bereits eine gemeinsame „mittelmeerische“ Realität, und sie würde eine solche Belastungsprobe wahrscheinlich ohne Schaden überstehen.

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