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Rechtschreibreform - ein konsekwentes Gräuel

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Die Niederländer haben ihre Reform schon verdaut. Nun blicken sie hämisch auf die deutschsprachigen Länder.

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Die Niederländer haben ihre Reform schon verdaut. Nun blicken sie hämisch auf die deutschsprachigen Länder.

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Seit so viele deutschsprachige Schriftsteller eine Erklärung gegen die Rechtschreibreform unterzeichnet haben und der „Spiegel” den neuen Regeln eine mehrseitige Titelstory gewadmet hat, ist bei uns Feuer am Dach. Wer sich mit der niederländischen Sprache beschäftigt, hat für derartige Vorwürfe nur ein müdes Lächeln übrig - alles schon mal dagewesen, im Vorjahr, aber eben im niederländischen Sprachgebiet.

Von der deutschsprachigen Öffentlichkeit nahezu völlig unbemerkt, ist dort im August 1996 ebenfalls eine neue Orthographie in Kraft getreten. Das entsprechende Gesetz war 1995 von einem niederländischflämischen Ministerrat beschlossen worden und hatte für enorme Aufregung gesorgt. Die neue Rechtschreibung verunstalte die Sprache, sei noch komplizierter als die alte, die sie eigentlich vereinfachen wollte, und vor allem: Relativ geringe Ver-> änderungen würden durch den Neudruck aller wichtigen Rücher unverhältnismäßig hohe Kosten verursachen.

Natürlich geht es bei der niederländischen Sprache um andere Dinge als bei der deutschen Sprache (die Großschreibung beispielsweise gibt es dort nicht einmal), aber die deutschen Rechtschreibreformer hätten doch einiges lernen können von ihren niederländischen und flämischen Kollegen. Beispielsweise, daß Doppelformen, so gut sie auch gemeint sind, letztlich nur verwirrend wirken und eher eine Quelle von Fehlern werden anstatt solche zu verhindern. Im niederländischen Sprachraum kannte man seit 1954 Doppelformen für die Schreibung vieler Lehnwörter, zum Reispiel „komitee” neben „comite” oder „konsekwent” neben „consequent”. Resultat: Anstatt daß sich mit der Zeit eine der beiden Schreibweisen durchgesetzt hätte, herrschte heilloses Durcheinander. Jeder schrieb ein bißchen, wie es ihm paßte, und wußte bald nicht mehr, bei welchen Wörtern es eine Wahlmöglichkeit

Foto Kimi gab und bei welchen nicht. Viele Menschen glaubten außerdem irrtümlich, daß die verschiedenen Schreibweisen Bedeutungsuriter-schiede ausdrücken sollten. 1995 wurde die Wahlmöglichkeit daher abgeschafft, und das war auch der einzige Punkt, mit dem die meisten Sprachgebraucher ungeteilt zufrieden waren. Allerdings betreffen die

Doppelschreibungen beim Deutschen weniger als 200 Wörter, während es sich im Fall des Niederländischen um weit mehr als 1.000 Wörter gehandelt hat.

Jetzt, da die neuen Begeln im niederländischen Sprachraum Gesetzeskraft erlangt haben und sich die ersten Protestierer grollend in die neuen Lehrwerke vertiefen, haben die Niederländer und Flamen leicht lachen. Hinter vorgehaltener Hand hört man freilich ab und zu auch den Vorwurf, daß sich „die Deutschen” nicht einmal die Mühe gemacht hätten, den Bat der erfahrenen Nachbarn einzuholen.

Von diesem Vorwurf kann man die Orthographiereformer tatsächlich nicht freisprechen. Ausländische Beobachter wurden nämlich nur insoweit eingeschalten, als es sich um Vertreter deutschsprachiger Minderheiten (zum Beispiel der Deutschsprachigen im französischsprachigen Belgien) handelte. Hätten die Becht-schreibreformer ihre, niederländisch-sprachigen Kollegen gefragt, hätten sie erfahren, daß es im niederländischen Sprachraum eine offizielle Liste von zirka 100.000 Wörtern gibt, der Gesetzeskraft zukommt. 1995 wurde beschlossen, daß der Wortschatz dieser Liste alle zehn Jahre aktualisiert werden soll, ohne daß dafür wieder ein eigenes Orthographiegesetz nötig wird. Im deutschen Sprachraum will man sich bekanntlich nach acht Jahren nochmals zusammensetzen und gegebenenfalls Verbesserungen beschließen. Es ist daher jetzt schon abzusehen, daß die gesamte Diskussion dann erneut aufleben wird.

Außerdem haben sich die Niederländer ausdrücklich nur auf Lehn-und echte Fremdwörter beschränkt, während der niederländische Kernwortschatz unangetastet blieb. Verändert man auch die „einheimischen” Wörter (wie das zum Beispiel bei „Stängel”, „behände” und so weiter der Fall ist), dann geht das den Leuten viel näher.

Im niederländischen Sprachraum haben sich die Wogen mittlerweile etwas geglättet, nicht zuletzt freilich deswegen, weil die Niederländer und Flamen jetzt den Deutschsprachigen beim Bechtschreibstreit zusehen dürfen ...

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