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Rechtsstaat braucht Wertekonsens

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Rechtssicherheit als wichtigste Frucht des Rechtsstaates ist durch die Normenflut und durch die Unscharfe der Rechtsbegriffe bedroht.

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Rechtssicherheit als wichtigste Frucht des Rechtsstaates ist durch die Normenflut und durch die Unscharfe der Rechtsbegriffe bedroht.

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Der Rechtsstaat ist eine der großen Errungenschaften der beiden letzten Jahrhunderte. Entstanden als Reaktion auf den Absolutismus organisiert er das gesellschaftliche Zusammenleben so, daß er jede Form der öffentlichen Machtausübung an gesetzliche Spielregeln bindet, um obrigkeitlichen Machtmißbrauch einzudämmen. Von jedem staatlichen Akt darf der Bürger erwarten, daß er in den Gesetzen seine Legitimitierung findet. Den Rahmen für diese Spiehegeln steckt die Verfassung ab.

Außerdem sichert der Rechtsstaat dem Bürger Grundrechte zu Verfahren zu deren Durchsetzung. Unabhängige Gerichte sorgen für die Verwirklichung der Ansprüche. Rechtssicherheit, ein klar überschaubarer Rahmen für das Zusammenleben und das Handeln der Bürger, soll die wesentliche Frucht dieses Konzeptes sein.

So bestechend das Konzept ist und so erstrebenswert seine Umsetzung, so sehr ist diese heute durch die gesellschaftliche Entwicklung bedroht. Da gibt es zunächst die überbor- ^ dende Gesetzesflut. Welche Sicherheit kann ein Rechtssystem bieten, das sich - wie das österreichische im Vorjahr - auf 9.580 Druckseiten neue Gesetze und Verordnungen allein auf Bundesebene leistet? In den sechziger Jahren lagen die Werte zwischen 2000 und 2.500 (was auch schon viel ist). Dazu kommen Regulierungen auf Landesund Gemeindeebene, Tarifverlautbarungen, technische Normen, und so weiter. Auch letztere wachsen ins Uferlose: Allein 1995 verzeichnete das österreichische Normenwerk einen Zuwachs von 15 Prozent! Insgesamt hatte es Ende 1995 einen Umfang von 103.806 Seiten, dreimal so viel wie 1990.

Keine Frage, daß es sinnvoll ist, vieles technisch zu normieren. Aber dieser Zugang der Regulierung wächst in immer mehr Bereiche hinein und erreicht damit Ausmaße, die dem einzelnen das Gefühl vermitteln, hilflos einem unüberschaubaren Wust von Regeln gegenüberzustehen. Ein Rechtssystem, das selbst der Spezialist nicht durchschaut, das die Verwaltungsbehörden überfordert, bei dem sich die Verfahren unabsehbar in die Länge ziehen: Wie soll es dem Bürger Rechtssicherheit vermitteln?

Die Gründe für diese Entwicklung sind zahlreich: So hat sich der moderne Sozialstaat dahin entwickelt, im Interesse der Umverteilung in zahlreiche Gebiete regelnd einzugreifen, die früher dem freien Spiel der Kräfte überlassen waren. Weiters verlangt die Internationalisierung und die Entwicklung einer immer komplexeren Technik eine laufend höher entwickelte Normierung. Außerdem sind viele Gesetze übertrieben perfektionistisch. Sie regeln unnötige Details, weil einflußreiche Interessengruppen ihre Anliegen in Gesetzesform festzuschreiben wünschen. Weiters kommt vieles überhastet zustande, um vor Wahlen politische Aktivität zu dokumentieren. Als Ergebnis von Kompromissen erweist sich so manches bei der Umsetzung als nicht praktikabel und bedarf der Novellierung.

Nicht nur der Bürger ist überfordert, auch die Einrichtungen, die für die Durchsetzung der Ansprüche zu sorgen hätten, Gerichte und Verwaltungsbehörden, kommen immer weniger mit ihren Aufgaben zurecht (siehe Furche48/95, sowie Seite 14). All das zusammengenommen beschert den modernen Industriestaaten ein unüberschaubares Rechtssystem, in dem das eigentliche Anliegen des Rechtsstaates, die Herstellung von Rechtssicherheit, zunehmend verfehlt wird.

Neben diesen Problemen der Umsetzung der rechtsstaatlichen Idee gibt es auch noch grundsätzlichere Anfragen Ein das Konzept. Ist es für die Steuerung der pluralistischen Gesellschaft überhaupt geeignet? Entwickelt wurde das Konzept jedenfalls im Umfeld einer Kultur, die im christlichen Wertesystem verankert war. In diesem Umfeld stellt das Recht die Ausfaltung einer vorgegebenen Weltanschauung dar. Dieser Aspekt ist von großer Bedeutung, denn kein Recht kommt ohne Verwendung wertbeladener Begriffe aus. Begriffe wie sittlich oder Familie kann man erst auf dem Hintergrund einer gemeinsamen Weltanschauung eindeutig verwenden.

Als kürzlich Familienministerin Sonja Moser für die Einführung einer „Familienverträglichkeitsprüfung" für Normen der Arbeits- und Wohnbaupolitik sprach, so mag man über die Sinnhaftigkeit einer solchen Forderung geteilter Meinung sein. In einer pluralistischen Gesellschaft taucht aber die grundsätzliche Frage auf: Wovon spricht sie denn eigentlich, wenn sie das Wort Familie verwendet?

Sobald aber Begriffe wie Leben, Freiheit, Sicherheit, Familie, Sitte nicht vorgegeben, sondern im Rahmen der Rechtssetzung gestaltbar sind, geht die Rechtssicherheit verloren. In einer Gesellschaft, die keinen Konsens über den Begriff Leben hat, kann es eben geschehen, daß Väter nichts gegen die Abtreibung ihrer Kinder tun können, oder daß ältere Menschen sich vor der Einführung der Euthanasie fürchten müssen, weil dann die Definition von (lebenswertem) Leben den jeweils gegebenen parlamentarischen Mehrheiten obliegt.

Hier stoßen wir an ein Grundproblem. Wo es in einer Gesellschaft keinen Grundkonsens über Werte gibt -und das ist in der pluralistischen Gesellschaft ja vom Ansatz her der Fall -wird die Gesetzgebung in die Rolle gedrängt, in alle Lebensbereiche regulierend einzugreifen.

Damit ist aber die Gesetzesflut vorprogrammiert. Sobald das Individuum in einer Gesellschaft keinen gemeinsamen, transzendenten Zielvorstellungen verpflichtet ist, sondern allein seinem Eigeninteresse folgt, kommt dem Rechtssystem die Aufgabe zu, aus der Unzahl der Egoismen eine Gesellschaft harmonischen oder zumindest erträglichen Zusammenlebens zu bauen. „Die ganze Kunst dieser erhabenen Architektur besteht in der Schaffung von Gesetzen, deren geschickte Weisheit genügt, um meiner Eigenliebe den Weg auf die Art zu weisen, daß ich selbst - gewissermaßen - meine privaten Vorteile aufgebe und mich damit für mein Opfer in liberaler Weise entschädigt fühle" kennzeichnete der französische Philosoph Etienne Bonnot de Condillac diese Herausforderung. Diese Perfektion der Regulierung läßt sich aber nicht erreichen. Wie soll eine Gemeinschaft von Egoisten, wo jeder bis hart an die Grenze der ihm eingeräumten Möglichkeiten geht, alle gesetzesfreien Räume optimal für den eigenen Nutzen ausbeutet, funktionieren? Kein Gesetzgeber der Welt kann für alle Eventualitäten vorplanen - und könnte er es, so wäre der Gesetzesrahmen jenes unüberschaubare Monster, zu dem der moderne Rechtsstaat zu werden droht.

Hier zeichnet sich die eigentliche Herausforderung ab: Statt noch perfektere Regeln anzusteuern, ist heute alle Anstrengung darauf zu konzentrieren, die verbindenden, jenseits des Rechtes normierenden Leitvorstellungen für ein Zusammenleben in Gemeinschaft zu kultivieren. In einer Rede in Harvard (1978) sagte Alexander Solschenitzyn zu diesem Thema: „Wo immer das Gewebe des Lebens aus rechtlichen Beziehungen gewoben wird, macht sich eine Atmosphäre der moralischen Mittelmäßigkeit breit. Sie lähmt des Menschen edelste Regungen. Es wird einfach unmöglich sein, die Prüfungen dieses bedrohlichen Jahrhunderts zu bestehen, wenn nichts anderes als der Gesetzesrahmen als Stütze dient."

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