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Reifeprüfung, kritisch geprüft

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Angesichts der wieder aktuellen Reifeprüfungstermine sei an eine Diskussion erinnert, die im Vorjahr in der Deutschen Bundesrepublik zu grundsätzlichen Erwägungen über Wert und Unwert der Reifeprüfungen geführt hat. Viele der geäußerten Gedanken sind auch für Österreich gültig. *

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Angesichts der wieder aktuellen Reifeprüfungstermine sei an eine Diskussion erinnert, die im Vorjahr in der Deutschen Bundesrepublik zu grundsätzlichen Erwägungen über Wert und Unwert der Reifeprüfungen geführt hat. Viele der geäußerten Gedanken sind auch für Österreich gültig. *

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der Lohnpolitik der autonomen Sozialpartner.“ *)

Warnung yor Fehlgriffen

In ähnlichem Sinne äußert sich auch Johannes Messner zu diesem Problem. **)

Auf der gleichen Linie liegt auch das neue Aktionsprogramm des ÖAAB, das somit folgerichtig die Lehre der christlichen Sozialreform zu verwirklichen trachtet. Auch es betont die untrennbare Verbundenheit zwischen wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt.

Die echte Sozialgesinnung zeigt sich also nicht darin, daß mehr und immer mehr gefordert wird, sondern daß Forderungen gestellt werden, die auch wirklich erfüllbar sind, und daß die verschiedenen Forderungen, die an Staat und Wirtschaft herangetragen werden, undemagogisch nach ihrer tatsächlichen Wichtigkeit gereiht werden. Auch Lohnpolitik sei nur eine „Kunst des Möglichen“, sagt Nell-Breuning. Das gleiche gilt für die gesamte Sozialpolitik.

Die echte Sozialgesinnung zeigt sich aber auch in der Wachsamkeit gegenüber einem Mißbrauch der Sozialleistungen. Die Knappheit der verfügbaren Güter erzwingt ihre bestmögliche Nutzung und erlaubt nicht eine willkürliche, auf bloße politische Optik abgestellte Vergeudung.

Realismus, nicht Resignation

Was soll aber geschehen, wenn eine als notwendig erkannte Sozialleistung aus Mangel an Mitteln nicht durchgeführt werden kann? Soll man dann einfach auf sie verzichten und die unbefriedigenden Zustände von heute verewigen? Keineswegs.

„Sache wirklicher Sozialreform ist ist es, zu zeigen, was geschehen muß, damit in absehbarer Zeit die Löhne

eine Bähe erreichen, die dem erstrebten Lebensstandard entspricht“, sagt Messner. „Vielmehr wird in einem solchen Falle alles darauf ankommen, genau zu erheben, was die Ursachen der niedrigen Löhne sind, wie es mit den Produktivität sv er h alt ni s s en in dem

Lande steht, was die Ursachen einer niedrigen Produktivität sind, welches die Wege zu ihrer Hebung, die Möglichkeiten der Beschaffung der dafür unerläßlichen Kapitalien, dabei namentlich auch von ausländischem Kapital, usw. sind.“ ***)

Anpassung der Sozialpolitik an die Realität bedeutet daher nicht Resignation, sondern Aufforderung zu erhöhter Dynamik, zu verbesserter und undemagogischer wirtschaftlicher Wachstumspolitik. Wirtschaftspolitik ist also nicht der Gegensatz zur Sozialpolitik, sondern vielmehr deren Voraussetzung, ja besser noch: sie ist ein Teil dieser Sozialpolitik. Nur wenn wir den Blick auf die Ganzheit des sozialen und wirtschaftlichen Geschehens gerichtet haben und die Harmonie der einzelnen Teile anstreben, wird es gelingen, echte Sozialpolitik zu betreiben. Diese wird sich nicht mit der Umverteilung eines sinkenden Wohlstandes begnügen, sondern mit Hilfe eines wachsenden Sozialproduktes die sozial- und kulturpolitisch notwendigen Aufgaben Schritt für Schritt immer besser erfüllen.

*) „Kapitalismus und gerechter Lohn“, Herder-Bücherei, Band 67, Freiburg-Breisgau, Seite 146—151.

**) Die soziale Frage, Tyrolia-Ver-lag, Innsbruck, Seite 381—382. ***) a. a. O., Messner

Die Wohlfahrtchancen haben in der Deutschen Bundesrepublik dazu geführt, daß es einer erheblich größeren Anzahl von Familienvätern als bisher möglich geworden ist, ihre Kinder an einer Höheren Schule studieren zu lassen. Ein Großteil dieser Schüler hat die Absicht, auf die Hochschule zu gehen. Der Auslesender dafür ist immer noch die Reifeprüfung, deren Bedeutung als Folge des Zustroms zu den Höheren Schulen wächst.

Die Aufgabe der Reifeprüfung ist eine doppelte: Einerseits soll der Kandidat nachweisen, daß er die intellektuelle Reife besitzt, um ein Hochschulstudium durchzustehen. Auf der anderen Seite hat aber die Reifeprüfung auch den Beweis zu erbringen, daß der Kandidat das in der Höheren Schule Vorgetragene in sich aufgenommen und, zumindest gedächtnismäßig, irgendwie gegenwärtig hat. Daher ist die Reifeprüfung sowohl (auf die Hochschule bezogen) ein Ersatz für die fehlende Aufnahmeprüfung als auch (mit dem Blick aufs Gymnasium) eine Abschlußprüfung.

Hier entsteht nun eine Schwierigkeit

Vielen ist an einem Hochschulstudium nichts gelegen, sie müssen aber dennoch Wissen und Fähigkeiten für eine akademische Laufbahn nachweisen. Die Höhere Schule ist eben noch immer eine „Gelehrtenschule“ im Sinn des Preußischen Ediktes vom 23. Dezember 1788, eine Vorschule für die Hochschule, vor allem für die Universität. Der Vorsitzende der Prüfungskommission hat durch seine Unterschrift auf dem Abiturzeugnis zu bescheinigen — und dies in erster Linie —, daß der Kandidat das in neun Studienjahren Gelernte in einer einmaligen Prüfungssituation wiederzugeben vermochte — oder daß dies eben nicht gelungen ist. Die Prüfungskommission nimmt den Lehrern der Hochschulen die Arbeit einer ersten Auslese ab, die in anderen Ländern vor allem wegen der anders gearteten Vorschulen von der Hochschule selbst vorgenommen wird.

9 Jahre reif und dann...

Die Ergebnisse einzelner Reifeprüfungen waren im Vorjahr Anlaß für sehr heftige Auseinandersetzungen in der BRD gewesen.

Bei den Auseinandersetzungen ging es vor allem um die Frage, ob örtliche Ergebnisse nicht den Schluß

zulassen, daß die Reifeprüfung an sich überholt, zumindest aber die Art, wie sie abgehalten wird, bedenklich, wenn nicht unmenschlich sei. In Lübeck hatten die Reifeprüfung 34 Prozent der Kandidaten nicht bestanden, in Velbert 24 Prozent. Unter Bedachtnahme auf diese Ziffern und ohne deswegen zu verallgemeinern, hielt es Ludger Schmitts für notwendig, im „Rheinischen Merkur“ anklagend zu schreiben: „... hier haben nach neunjähriger Schulzeit offenbar weniger die Schüler versagt als die Lehrpersonen.“ Jedenfalls wurden in den Bel-spielfällcn bis zu einem Drittel jener Schüler, die bisher und in der Mehrheit achtmal geeignet befunden wurden, in den jeweils nächsten Jahrgang aufzusteigen, plötzlich wegen der Leistungen an einem einzigen Prüfungstag und unter den besonderen Bedingungen dieses Tages für „unreif“ erklärt, meist von den gleichen Lehrern, und dies, obwohl es doch in der BRD eine Versetzung in die Oberprima gibt, die ohnedies so etwas wie eine Auslese darstellt. Ein Irrtum im Einzelfall mag noch verständlich und möglich sein, nicht aber im aufgezeigten Umfang. Daher die berechtigte Aufregung eines Teiles der Öffentlichkeit. Die Tatsache, daß sich die Lehrpersonen einer ganzen Klasse (in den Beispielfällen, das soll betont werden) bei jedem dritten Schüler erheblich geirrt hatten, ihn „versehentlich“ bis zur Reifeprüfung führten, macht die Ergebnisse herausfordernd und den Unmut vieler Eltern verständlich.

Weil nun einmal begonnen, ging das Gespräch um die Reifeprüfung sogar darum, ob man sie in der bisherigen Form nicht überhaupt abschaffen solle (Ministerpräsident Dr. Meyers von Nordrhein-Westfalen). Gegen diesen Vorschlag erhoben sich ernste Stimmen (selbstverständlich solcher, die das Abitur bereits hinter sich hatten), die auf den tiefen Sinn der Reifeprüfung hinwiesen, vor allem auf die Notwendigkeit, daß der junge Mensch einmal in der Oberschule den Beweis anzutreten habe, daß er sein Wissen von neun Jahren auch seinem Geist gleichsam eingeordnet habe.

Reif und „reif“

Wie immer nun die Dinge liegen, feststeht, daß die Art der Reifeprüfung in der BRD einiger Überlegungen bedarf:

• Wer jemals ein Abitur abgelegt hat, weiß die Situation einzuschätzen, kennt die würgende Angst, je näher das Prüfungsdatum kommt.

• Das von einem Kandidaten verlangte Wissen ist außerordentlich groß. Aber nicht in diesem Tatbestand liegt das Ungewöhnliche, sondern in der Ungewißheit, welches Stoffkapitel abgefragt wird, wie die Stimmung der Kommission ist, wel-

cher Art die Eingriffe des Vorsitzenden in das Verfahren sein werden, was es so an Bedrohlichem alles geben mag oder (was das Wesentliche ist) in der Einbildung der Prüflinge zu geben scheint.

• Dazu kommt noch, daß die tatsächliche Reife keineswegs immer in den kurzen Zeiträumen, die für die Prüfung zur Verfügung stehen, erwiesen werden kann. Was heißt übrigens Hochschulreife? Die Anforderungen an den einzelnen Hochschulen sind sehr verschieden und keineswegs immer auf ein abstraktes Denken abgestellt. Die zu erweisende Reife muß aber eine All-roundreife sein. Kann aber diese Reife erwiesen werden, wenn man nur Gedächtniskenntnisse abverlangt, vermag eine Übersetzungsschwierigkeit in Griechisch bereits eine Disqualifikation zu rechtfertigen, wenn der Kandidat auf eine technische Hochschule gehen will?

• Da es zwar bei der Reifeprüfung ein Gesamtergebnis gibt, aber dieses einen Saldo aus den Ergebnissen der Einzelprüfungen darstellt, ist die Reifeprüfung auch eine Summe von Gegenstandsreifeprüfungen. Ein Kandidat, der sonst in allen Gegenständen sehr gute Leistungen zu bieten hat, aber in einem Gegenstand versagt, ist unreif, ein anderer, der in allen Gegenständen gerade noch durchgekommen ist, wird als reif erklärt. Liegt da nicht im Grundkonzept ein Fehler, eine unangemessene Privilegierung des Mittelmäßigen?

Trotz aller Kritik an der Art, wie die Reifeprüfungsvorschriften zuweilen ausgelegt werden, konnte die Gruppe jener, die in der BRD eine radikale Änderung bis zur Abschaffung der Reifeprüfung vorschlug, nicht überzeugen, schon deswegen nicht, weil keine bessere Möglichkeit angedeutet werden konnte.

Die vorgeschlagene Verlegung der Auslese auf die Hochschulen hat scheinbar einiges für sich. Die Teamarbeit zwischen den Kandidaten, die Zusammenarbeit von Lehrern und Schülern kann aber die Hochschule nicht ersetzen. Für die Kommission der Hochschullehrer, die zu entscheiden hätte, ob ein Kandidat geeignet ist oder nicht, ist der Prüfling ein Unbekannter, an den sich die prüfenden Professoren nicht anpassen können; dazu kommt noch, daß die Eigenart der Schulen, ihre verschiedene Qualität und so fort, nicht berücksichtigt werden könnte.

Aus diesem Grund scheint es in erster Linie nicht um eine radikale Änderung des Systems der Ausleseprüfung zu gehen, sondern um die Vermenschlichung der Prüfungsund vor allem der Klassiflkations-methoden, die oft ohne Zusammenhang mit den Vorleistungen des Kandidaten lediglich Momentergebnisse festhalten.

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