6562236-1949_06_11.jpg
Digital In Arbeit

Revision sozialökonomischer Begriffe

Werbung
Werbung
Werbung

In einer unerreichten, genialen Simplifi- kation des Ausdrucks wie der der Darstellung wurde im vergangenen Jahrhundert zuerst von Marx in kontradiktorischer Form und später von der anderen Seite der Tatbestand des Bestehens einer sozialen Frage zum ersten Male in das helle Licht einer weltöffentlichen Diskussion gestellt und in einem System von Kategorien geordnet.

Die Voraussetzung einer Darstellung der sozialen Frage ist aber im Wesen die jeweils gegebene gesellschaftliche Ordnung. In jenem Maße nun, in welchem die Struktur der Gesellschaft sich gewandelt hat, sind die Spannungen zwischen den Gliedern des Gesellschaftskörpers in ihrer Art andere geworden, da sie eben Ausdruck geänderter Bedingungen sind. Auf diese Weise hat aber auch die soziale Frage, die doch als Spiegelbild einer gesellschaftlichen (Un-)Ordnung nur eine abgeleitete Existenz hat und lediglich Index eines sozialen Mißverhältnisses ist, eine wesentliche Änderung eben von ihren Voraussetzungen her erfahren. Man denke da etwa an die Sozialrevolution in Osteuropa und ihre tiefgreifenden Folgen. Den Umstand der Ableitung der sozialen Frage vom Urbild der Gesellschaft nicht berücksichtigen und weiterhin mit Kategorien operieren, die besonders nach der Weltkatastrophe von 1945 bloß Formen ohne soziologischen Inhalt sind, hieße aber den Komplex der sozialen Frage zu einer willkürlichen Konstruktion machen.

Es ist daher angezeigt, die Kategorien aus dem Gebäude der sozialen Fragen, die lediglich eine geschichtlich begrenzte Bedeutung haben, streng von jenen zu scheiden, welche, wie etwa der Tatbestand der Individualität des Menschen und die daraus entstandene hierarchische Schichtung der Gesellschaft, einen Wesensbestandteil einer jeden gesellschaftlichen Ordnung bilden, weil sie der zu allen Zeiten gleichen Natur de Menschen angehören.

Die Begrenzheit des verfügbaren Raumes macht die Ausführung des Themas nur für die Heraushebung einiger wesentlicher sozialökonomischer Strukturänderungen und ihrer Folgen möglich.

Die Eigentumspyramide (bei Marx ausgewiesen als Trennung von Eigentümern und Nichteigentümern an Produktionsmitteln) ist stets ein wesentlicher Anlaß der sozialen und sozialökonomischen Auseinandersetzungen, wenn nicht ihr Kern gewesen. Nun ist es aber heute so, daß (auch im Westen) die Eigentumspyramide erheblich abgeflacht worden ist, so daß die Höhenunterschiede in der Vermögensgröße sich beträchtlich verringert haben. Jede moderne Einkommensstatistik zeigt, daß die Zahl der großen Vermögen kleiner geworden ist. Als Folge sozialpolitischer oder sozialrevolutionärer Maßnahmen ist das Eigentum der Reichen merkbar beschnitten, zumindest aber in seinem Wachstum gehemmt und daher im Zusammenhang mit einem nicht abzuleugnenden allgemeinen Wohlstands anstieg relativ gesunken. Die Güter, welche den Eigentümern größerer Vermögen direkt oder indirekt abgenommen worden sind, haben sich aber nicht als Vermögen bei den minderreichen Schichten, also als neues Eigentum, niedergeschlagen, sondern wurden entweder etatisiert oder, als Folge einer gelockerten Konsumdisziplin, verflüssigt, da heißt konsumiert (in Konsumgüter umgesetzt). Dadurch wurde gleichzeitig mit der Eigentumspyramide auch die Konsum- pyram.ide abgefkcht. Heute sind Luxus und etwa textile Mode keineswegs mehr das Vorrecht von Gruppen, sondern Gegenstand eines Volkskonsums, wenn auch freilich in einer nicht wegzudenken den Differenzierung. Damit aber ist ein bedeutendes Spannungselement, der Gegensatz zwischen Mehr- und Minderverbrauchern und die provokatorische Augenfälligkeit der ökonomischen Mehrschichtigkeit, bedeutend gemildert worden. Zumindest in unserem Kulturraum.

Neben der Eigentums (Eigentümer-) Schichtung ist in den letzten Jahrzehnten eine ihr an sozialökonomisdier Bedeutung überlegene Einkomme ns pyramide getreten. Das Eigentum wurde und wird immer mehr in seiner Wirksamkeit als Quelle des Einkommens begrenzt, sei es durch eine progressive Besteuerung dės Ertrags, sei es durch Erhöhung der „sozialen Aufwendungen“, die gewinnschmälernd wirken und neben dem relativen Anstieg des Lohnanteils an den Gesamtkosten tatsächlich indirekt eine Art Miteigentümerschaft der Arbeitnehmer an den Produktionsmitteln konstituieren helfen. Die Entthronung des Eigentums als Element der Ertragsbil- dung ist aber ein Schritt zum Erreichen der von vielen Seiten angestrebten „Sozialisierungsreife“, wenn nicht diese selbst. So ist das Eigentum wohl noch Substanz („Anlage“). aber nicht mehr im früheren Umfang ertragszeugend. Auf der anderen Seite ist dagegen das Einkommen zum Beispiel der kapitallosen Kapitalisten (der „Manager“), der beamteten Spezialisten, der Geschäftsführer und der Vorstandsmitglieder der anonymen Gesellschaften (Aktiengesellschaften und Ges. m. b. H.) verhältnismäßig stark gewachsen. Die „Ware“ Arbeitskraft erhält solcherart bereits teilweise einen hohen Preis sogar aus dem Gesetz der Marktwirtschaft. Es ist ja nicht unbekannt, daß das Einkommen vieler Selbständiger (so eines Kleinkaufmanns) beträchtlich geringer ist als das eines „unselbständigen“ (formell also der Klasse der Proletarier zugehörigen) Generaldirektors, der nichts als seine Arbeitskraft besitzt. In Osteuropa hat die Einkommenspyramide im Wesen die Eigen- tumsschiditung sogar abgelöst und bildet fast das einzige, sicherlich aber das bestimmende Ordnungsgesetz der ökonomischen Hierarchie.

In einem engen Zusammenhang mit dem angedeuteten sozialökonomischen Wandel steht die Änderung der Stellung des Proletariats. Heute ist der Proletarier mehr denn früher eine politische und nicht sosehr eine ökonomische Kategorie, eher ein politischer Stand, dem wirtschaftlich verschieden mächtige Personen angehören, Direktoren und Arbeiter, Unternehmer und Angestellte. Sie alle, „Patrizier und Plebejer“, eint selbst verständlich nicht die Gleichheit von Exi Stenzbedingungen, sondern mehr ein gemeinsames ethisch-politisches Weltbild. Die Marke „Proletarier“ ist dadurch ein politisches Signum geworden: für einen „Stand“ und keineswegs mehr für eine „Klasse“ im Sinne der Begriffsbestimmungen des Kommunistischen Manifests.

Gleichzeitig hat aber auch die Ablehnung des Kapitalismus durch seine Gegner eine Wandlung erfahren. Es geht dem Antikapitalisten der Gegenwart nicht mehr im gleichen Umfang um den Kampf gegen den Kapitalismus an sich (in seiner Form als Lebensanschauung, also als kommerzialisiertes Denken), sondern lediglich um einen bestimmt geformten und durch die vordringliche Betonung des Privateigentums an den Produktionsmitteln politisch bestimmt ausgezeichneten Kapitalismus. In der Frage des Staatskapitalismus müssen wir hingegen heute zuweilen bei den Antikapitalisten eine elementare Befangenheit feststeüen, von der auch die Solidaristen (in der politischen Praxis) des öfteren nicht ausgenommen sind.

Für die Gestaltung des Gesamtbildes der sozialen Frage nicht Unwesentlich ist der Umstand, daß die Sozialpolitik heute bereits ein Ausmaß und eine Intensität besitzt, welche ihre Maßnahmen zu sozialreformatorischer Bedeutung erheben. Jedenfalls ist die Tatsache evident, daß die Sozialpolitik der Gegenwart nicht mehr eine notdürftige Korrektur der Auswirkungen wirtschaftlicher Machtverhältnisse ist, sondern tief in das Gefüge der Gesellschaft eingreift. Nicht ordnend, berichtigend, sondern u m- bauend und Struktur ändernd. Es genügt ein Hinweis auf die legalisierten Lohnabkommen, die den Arbeitnehmer nicht allein vor der Ausbeutung durch den Unternehmer schützen, sondern versuchen, ihm so etwas wie eine beträchtliche Anteilnahme am Produktionsergebnis und damit eine, wenn auch vorläufig nur andeutungsweise sichtbare Mitunternehmereigenschaft zu verschaffen. Hier ist auch das Mitspracherecht der Betriebsräte besonders in Unternehmunr gen gewisser Größenordnungen zu erwähnen, ebenso die Ausweitung der Sozialversicherung und die Berücksichtigung des Sozialbedarfs irti Rahmen von Familien- und Kinderzulagen.

Je mehr die Zahl der Reichen absinkt und die Anteilnahme der Arbeiter und Angestellten am Sozialprodukt sich relativ vergrößert, um so weniger ist die Lösung der sozialen Frage die Sache einer gerechten Verteilung der Güter der Nation allein, um so mehr als in entgüterten Territorien, etwa Mitteleuropas, das Maximum der verteilungsfähigen Reichtümer dem einzelnen Anteilberech tigten nur einen geringfügigen Anteil verschaffen würde. Die Entscheidung über eine ökonomische Lösung der sozialen Spannungen liegt heute zu einem guten Teil bei den Expropriierten selbst! Vor allem in einer Vergrößerung des Arbaitseffekts durch eine Steigerung der Wirksamkeit der menschlichen Arbeitskraft . Diesmal nidit im Interesse privatkapitalistischer Rendite, sondern um einer Erhöhung des Sozialprodukts willen.

Kehren wir zum Ausgang der Themenstellung zurück: Die dürftigen Hinweise, aus vielen möglichen ausgewählt, sollten einen Beweis dafür bilden, daß wir die gewaltigen Änderungen im Sozialgefüge nicht nur beachten, sondern zum Anlaß einer Berichtigung unserer sozialökonomischen Begriffe madien müssen. Sonst kann es sein, daß die Sozialwissenschaft nur die Bedeutung einer eigenwilligen, in sich selbst ruhenden Konstruktion erhält und der Schatten der gesellschaftlichen Dinge als Ding selbst angesehen wird. Was ist aber das Soziale mehr als der Schatten der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ohne deren Beachtung ein soziales Gespräch in akademische Spekulation ausarten muß: in sozial- wissenschaftltshen Snobismus.

Vergleiche Aufsatz „Gütermaingel und Ar. beitseiffekt“ in „Wissenschaft und Weltbild“, Wien, Heft 4/1948.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung