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Revolution des Dorfes

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Tiefgreifende Veränderungen in der Dorffamilie und in den Dörfern des ebenen Landes, der Täler und Berge vollziehen sich seit Jahren vor unseren Augen; weit über diese wirtschaftlichen und sozialen Bereiche hinaus betreffen und berühren sie irgendwie alle Menschen der Gegenwart. Diese mit gleichsam naturgesetzlicher Regelhaftigkeit ab- laiufenden Wandlungsprozesse von weltweiten Ausmaßen werden von einer ganzen Reihe von Wissenschaften registriert und kontrolliert.

Mitten in die letzten Auseinandersetzungen um die Neugestaltung der elementaren und höheren Volksbildung stellt der Assistent am Pädagogischen Seminar der Universität Marburg, Georg M. Rückriem, seine alle bisherigen einschlägigen Publikationen weit überragende wissenschaftliche Studie1 über die geradezu umstürzende und bestürzende Wand- lungs des Dorfes.

Diese Wandlung erfolgt so radikal, daß man von einer förmlichen Auflösung der Dorfgesamtheit in Teilgemeinschaften spricht, die nicht einmal vor den entlegensten Alpentälern haltmacht und sogar eine Tendenz zur „Kernspaltung der Familie“ im Gefolge hat. So weitgehend beschleunigen die Kräfte und Mächte der Industrialisierung und Urbanisierung den Wandel des Dorfes und der interfamiliären Struktur.

Sowohl die bisherigen Bezeichnungen als auch die uns so selbstverständlich gewordene übliche Bewertung der einzelnen Züge dieser Entwicklung sind durch das rasante Tempo dieser Vorgänge überholt: Man kann beispielsweise heute nicht mehr von „Landflucht“ oder auch von „Landarbeiterflucht“ sprechen. Die Agrarsoziologen sind längst dazu übersprangen, von einer „rurban sociology“ (das ist die Zusammensetzung von „rural“ und „urban“, was sich im Deutschen nur schwer wiedergeben läßt), also von einem Stadt-Land-Kontinuum und der Wissenschaft davon zu sprechen. Die alte Dorfschule

Nicht zufällig bilden Familie und Schule die zwei wichtigsten Streitpunkte in diesem Gärungs- und Klärungsprozeß. Beide Lebenskreise werden von den veränderten Einflüssen am meisten betroffen. Tiefe und Tragweite der gegenwärtigen schulorgani9atorischen äußeren und methodisch-didaktischen inneren Reformen im Dorfschulwesen kann ein knapper Rückblick am besten verdeutlichen. Nach Leopold von Wiese war das Dorf stets ein „geschlossener Lebenskreis“ mit einem traditionell ständisch-bewahrenden Charakter. In der traditionellen Landschule stand die „Erziehung zum bäuerlichen Menschen im Vordergrund“. Somit mußte (nach dem Lexikon der Pädagogik von Herder unter „Landschule“) das Bäuerliche „natürlich den Schwerpunkt bilden, und der Lehrplan muß auf die bäuerlichen Verhältnisse zugeschnitten sein. Das Bildungsgut ist in erster Linie aus dem Dorf, aus Haus und Hof, aus der Sippe, aus der Landschaft und Landschaftsgeschichte zu nehmen. Die Heimat ist die Grundlage des Unterrichts.“

Noch ganz im Geist dieser Zielsetzung, jedoch schon „modern“ in der organisatorischen Durchführung vollzog sich die österreichische Land- schulemeuerung nach 19453. Der tradierten Zielsetzung ordneten sich die Teilziele unter: Die Landschule sollte nach wie vor eine ländliche Heimatschule, eine Lebens- und Erziehungsschule und eine (bäuerliche) Leistungsschule sein. Eine solche Leistungsschule konnte (und kann heute) die Landschule nur durch Heruntersetzung der Schüleranzahlen und durch Umwandlung von nieder organisierten in höher organisierte Schulen werden, was bei dem damaligen Stand der Dinge keine Kleinigkeit war, besuchten doch 60 Prozent aller Kinder Österreichs nur wenig gegliederte Landschulen, und von diesen waren ein Viertel einklassig, ein Viertel zwei- klassig und ein Sechstel dreiklassig (das waren zusammen zwei Drittel aller ländlichen Volksschulen). Trotzdem gelang der in der österreichischen Schulgeschichte einmalige Vorgang (der neben den Wiener Verdiensten der Reformzeit in den zwanziger Jahren viel zuwenig gewürdigt wird), daß der Stand der einklassigen Schulen von 1037 auf 803 (von 25 auf 18 Prozent), der zwei- klassigen von 1042 auf 933 (von 25 auf 21 Prozent) heruntergesetzt werden konnte; somit wurden damals 350 Landschulen Österreichs schon in höher organisierte Volksschulen umgewandelt.

Die „neue Landschule“

Wenh wir auch nicht soweit gehen wollen wie einzelne Kritiker der bisherigen Dorfkultur, wird es doch gut sein, sich nüchtern auf den Boden der Tatsachen zu steilen, um die gegenwärtige Situation unverhüllt kennenzulernen.

Obwohl es gänzlich ausgeschlossen ist, aus der Studie von Rückriem auch nur die folgenschwersten statistischen und agrarsoziologischen Ergebnisse herauszuholen, seien doch wenigstens einige markante Daten zur Überlegung festgehalten. Im deutschen Bundesgebiet sank der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung seit 1800 von 75 Prozent auf ca. 9 Prozent im Jahre 1962. Aus vielen soziologischen und psychologischen Einzeluntersuchungen trägt Rückriem das Bild vom heutigen „Dorf“ zusammen: aus den Bauerndörfern wandern täglich ganze Heere in die Industrie (in die Verkehrswirtschaft, Bauwirtschaft, den Handel, die Verwaltung usw.); sie verbleiben aber in ihrem Heimatdorf. Industriearbeiter siedeln sich in den Dörfern an. Jeder kann sich im Geiste die täglichen Pendlerheereszüge ausmalen:

rund 60 Prozent aller Pendlerhaushalte in der Bundesrepublik (von Österreich liegen dafür noch keine vergleichbaren Zahlen vor) entfallen auf Dörfer und Landstädte. Ländlich und landwirtschaftlich sind also schon lange nicht mehr gleich.

Das noch bäuerliche Dorf — der noch bäuerliche Anteil eines solchen — wird aber auch selbst schon längst industrialisiert. Aus beiden Gründen gewinnt das Land eine Reihe von Funktionen dazu. Es wird zunehmend Standort für Gewerbe und Kleinindustrie. Es dient nicht nur der Erweiterung des städtischen Wohnraums; es wird immer mehr zum Erholungsgebiet.

Alle diese Vorgänge — Funktionswandlungen und Strukturveränderungen — lassen es völlig aussichtslos erscheinen, die Begriffe „Land“ und „Landvolk“ überhaupt noch zu definieren. Die meisten Agrarsoziologen stimmen heute darin überein, daß es heute durch die Industrialisierung in vielen Teilen Europas — nicht nur des Ostens — „keine schroffe Trennung von Stadt und Land“ mehr gibt, sondern daß es sich „weitgehend um Soziallandschaften mit Durch- und Übergangs charakter" handelt, „für derer sozialökonomische Struktur der Pendelwanderer und der Arbeiterbauei typisch sind4“. Schon im Jahre 195E hatte Wilhelm Abel auf der Arbeitstagung der Forschungsgesellschafl für Agrarpolitik und Agrarsoziologie darauf hingewiesen, daß „eine Ari Kontinuum der Erscheinungsformen und Sinngehalte des Lebens das letzte Dorf im Walde (wir dürfen ergänzen: in den Bergen) noch an die Metropole knüpft8“.

Nach den Erhebungen des österreichischen Soziologen Hans Bobek“ kann die Auffassung des Dorfes als „organische Einheit“ nur noch eine „romantisierende Betrachtungsweise“ genannt werden. Es könne überhaupt keine Rede mehr davon sein, daß das Wirtschaftsleben solcher Gemeinden eine auf sich gestellte und auf sich selbst bezogene organische Einheit darstellt. Es handle sich bei der Gemeinde vielmehr „um einen zwar standortlich, aber überwiegend nicht mehr funktionell zusammengehaltenen Ausschnitt aus einem vielschichtigen Beziehungsgefüge regionalen Ausmaßes“. Die Siedlungsformen sind eben konstanter als die Beschäftigung in ihnen. Deshalb wird heute von Industriedörfern, Arbeiter- Bauem-Dörfem und sogar von Arbei- teidörfem gesprochen.

Die Folgerungen für die Schule

Für die Schule entstehen aus dieser neuen Sachlage eine Fülle ebenso schwieriger wie heikler Probleme, und dies bis in die letzte Grundfrage hinein, ob man heute noch mit Recht von einer eigenständigen Landschulpädagogik überhaupt sprechen kann, gibt es doch sogar in den vorwiegend agrarisch strukturierten Gebieten kaum noch reine Bauerndörfer. Es gilt weder die Gleichung Landkind ist gleich Bauemkind noch jene, daß die Landschule gleich Bauemschule ist oder sein kann.

Zielsetzung, Lehrstoff und Unter- richtsgestadtung dieser und in dieser „neuen“ Schule auf dem „alten Dorfe“ werden unbedingt darauf Rücksicht nehmen müssen. Und die inneren Reformen werden äußere zur Folge haben. Die Zusammenlegung zu Mittelpunktschulen mit Jahrgangsklassen beispielsweise kann man eine solche schulorganisatorische „äußere“ Reform nennen. Freilich werden und sollten bei allen diesen organisatorischen Eingriffen in das Schuldeben zwei Sorgen vor allem im Auge behalten werden: Einmal sollten alle Änderungen nach eingehender lokal- augenscheinlicher Bestandsaufnahme dann am grünen Tisch (gut überlegt und erst nach einiger Zeit der Vorbereitung' und des Überganges (und nach möglichen Verbesserungen) ihrer endgültigen Form zugeführt werden. Und dann sollte nicht übersehen werden, was durch diese notwendigen Neuerungen fortan in Wegfall kommt.

Als einziges Beispiel solcher Überlegungen sei die durch die Errichtung von Mittelpunktschulen selbstverständlich gegebene Jahrgangsklasse angeführt. Sie mag rein organisatorisch eindeutig als Fortschritt erscheinen; rein pädagogisch gesehen ist das nicht so ohne weiteres der Fall. Fachleute von Rang und Namen, wie der bekannte Jenenser Pädagoge Peter Petersen, sprachen ganz im Gegenteil schon seit langem von dem „Bankrott der Jahresklasse“ und gründetete darauf sogar die Grundlagen seiner „neuen Schule“ nach dem Jenaplan. Nur Außenstehende wissen nicht, daß diese Organisationsform schon seit längerer Zeit in der Geltung der pädagogischen Wissenschaft zum offenen Problem geworden ist.

1) CJeorg M. Rückriem, Die Situation der Volksschule aul dem Lande. München 1966 ) Leopold von Wiese, Das Dorf als Sozialgebilde, München 1923

s) Ludwig Lang, Die österreichische Landschulerneuerung nach 1946, ln „Schule und Gestaltung“, Wien 1961 ) Nach Herbert Kötter, Landbevölkerung lm Wandel, Köln 1958, 8. 87 5) Wilhelm Abel, Bericht über die Landwirtschaft 1955, 162. Sonderheft •) Han Bobek, Bemerkungen zur Ermittlung von Gemeindetypen in Österreich, Klagenfurt 1955, S. 18

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