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Schacher mit dem Wahlrecht

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Bereits in der Nacht auf den 2. März war es sicher, daß die Wahlrechtsreform in den nächsten Monaten eine ganz bedeutende Rolle in der österreichischen Innenpolitik spielen würde. Fast mit der gleichen Sicherheit konnte man in dieser Nacht voraussagen, daß man von der relativ sachlichen Ebene der Wahlrechtsreformdiskussion abgehen und zurückkehren würde zu der seit 1963 wegen irgendwelchen Geheimabkommen zwischen SPÖ und FPÖ gefürchteten Form der Anti-ÖVP-Wahlrechtsänderung.

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Bereits in der Nacht auf den 2. März war es sicher, daß die Wahlrechtsreform in den nächsten Monaten eine ganz bedeutende Rolle in der österreichischen Innenpolitik spielen würde. Fast mit der gleichen Sicherheit konnte man in dieser Nacht voraussagen, daß man von der relativ sachlichen Ebene der Wahlrechtsreformdiskussion abgehen und zurückkehren würde zu der seit 1963 wegen irgendwelchen Geheimabkommen zwischen SPÖ und FPÖ gefürchteten Form der Anti-ÖVP-Wahlrechtsänderung.

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Seit dem März wurden von den Sozialisten nicht weniger als neun Varianten zur Wahlrechtsänderung angeboten.

Aber bereits seit der ersten „Verfassungsvariante“, die von der SPÖ in der Öffentlichkeit lanciert worden ist, wissen die Sozialisten, die Freiheitlichen und vor allem der für die Vorlage verantwortlich zeichnende Innenminister, daß die Volkspartei auf keinen Fall einer Streichung der Bürgerzahl als Grundlage für die Errechnung der Mandatszahl zustimmen wird. So ist die derzeitge Regierungsvorlage nach den Worten sozialistischer Regierungsmitglieder denn nichts anderes als der Versuch einer Gesprächsgrundlage für die kommenden Verhandlungen im Parlament; gleichzeitig aber ist die Überreichung der Novelle an den Nationalrat nichts anderes als eine Alibihandlung der Regierung Kreisky. In dem Vortrag an den Ministerrat wird ausdrücklich auf die Regierungserklärung vom 27. April hingewiesen, in der eine „umfassende Reform des Wahlrechtes mit dem Ziel der Schaffung eines gerechteren Ermittlungsverfahrens“ angekündigt wurde.

Von einer auch nur annäherend „umfassenden Beform“ kann im „Versuch einer Gesprächsgrundlage“ jedoch keine Rede sein. Selbst jene Forderungen, die von Dr. Christian Broda und Leopold Gratz in ihrer Broschüre „Für ein besseres Parlament — für eine funktionierende Demokratie“ in bezug auf die Wahlrechtsänderung 1969 aufgestellt worden waren, sind nur zu einem ganz kleinen Teil berücksichtigt worden. Man könnte die Frage Bürgerzahl öder Wählerzahl als Kernpunkt der differenten Auffassungen zur Wahlrechtsänderung und als direkten Anlaß für die Ablehnung des Wahlrechtes durch die ÖVP ansehen. In gewisser Beziehung ist sie es sicher, da sich aus diesem Problem sehr leicht ein vordergründiger Zweck der sozialistischen Änderungswünsche ablesen läßt, nämlich das Geschenk von einigen Mandaten an die FPÖ, hauptsächlich auf Kosten der ÖVP. Die Berechnungen der Mandatszahl aus der Bürgerzahl birgt in sich das Übel der übriggebliebenen Stimmen weit mehr als die jetzt vorgeschlagene Wählerzahl. Die Zahl jener Stimmen, die beim derzeitigen System nicht ausgewertet werden, das heißt: nicht für ein Mandat verwendet werden können, ist weit größer als bei dem System, das für jedes Mandat 25.000 Stimmen vorsieht. (Im Höchstfall können bei fluktuierender Abgeordnetenzahl und bei der ebenfalls vorgesehenen Reduzierung sowohl dar Zahl der Wahlkreise und der Wahlkreisverbände in ganz Österreich 24.999 Stimmen unverwertet bleiben.) Da es kein vollkommenes Wahlsystem gibt, gilt es hier, das sinnvollste System und das kleinere Übel zu wählen. Auswertungsmäßig ist sicher das von der SPÖ vorgeschlagene System das sinnvollste — und vor allem auch das politisch für die Sozialisten und Freiheitlichen günstigste. Verfassungsrechtlich gesehen, würde jedoch nicht nur die Ausmerzung der Bürgerzahl von der ÖVP mitbeschlossen werden müssen, sondern auch die Bestimmung, wonach der Nationalrat vom Bundesvolk gewählt wird und daher die Volksvertretung ist, geändert werden (Art. 26/1 der Bundesverfassung). Vom Volk, das „vertreten“ werden soll, blieben nämlich nur noch die Wähler übrig, nicht mehr jene, die noch nicht wahlberechtigt sind, also die Kinder und Jugendlichen.

Die anderen Bestimmungen der Novelle kann man großzügig übergehen, da es sich mehr oder minder um Variationen zum einen oder anderen Thema handelt. So die Klausel der Vorzugsbestimmungen für jeden Wähler, was wohl ein Rudiment der ohnehin sehr unbestimmten Broda-Gratzschen Forderung nach „möglichst enger Beziehung des Abgeordneten zu seinem Wähler“ sein dürfte. Ist es schon so gut wie sicher, daß die ÖVP dem Gesetzentwurf nicht zustimmen wird, ist es noch keineswegs klar, was von der Volkspartei als Gegenvorschlag geboten werden wird. Es scheint, daß die 'große Oppositionspartei hier den vor den politischen Ferien praktizierten Weg weitergehen will, das „Hinter-den-Initiativen-der-ßPÖ-und-FPÖ-Her-laufen“, einen Weg, der schließlich in einer mehr polemischen als sachlichen Kritik endet, aber keine wirkliche Alternative aufzeigt Was man aus der Kärntnerstraße zu diesem Thema hört, läßt erst in jüngster Zeit die Hoffnung keimen, daß nicht nur ein Vorschlag nach der Devise, „wie überbiete ich in dieser Frage die SPÖ“ herauskommen wird. Freilich ist es nach dem Gesetzentwurf der Sozialisten schon reichlich spät, mit grundlegend neuen Vorschlägen zu kommen, vor allem, seit das Wahlrecht — zum erstenmal seit sieben Jahren — wieder zum Schacherobjekt der österreichischen Innenpolitik geworden ist Der Mut, den vor den Märzwahlen manche Wahlrechtsexperten aufgebracht haben, ist seit dem Bekanntwerden des Ergebnisses um vieles abgekühlt worden, was um so unverständlicher ist, als gerade die Märzwahlen denen recht gegeben hatten, die sich unter „umfassender“ Lösung der Wahlrechtsfrage den Übergang zu einem echten rnehr-heitenbildenden System vorgestellt haben.

Zu einem derartigen System aber wird es in den nächsten Jahren kaum kommen, insbesondere dann, wenn die SPÖ verwirklicht, was sie den Freiheitlichen versprochen hat, nämlich im Falle des Scheiterns der „großen“ Lösung, eine kleine, ohne verfassungsrechtliche Änderungen durchzuführen. Die einzige Macht in Österreich, die derzeit auch die Muße hätte, ein grundlegend neues System mit echter Möglichkeit zur Mehrheitsbildung vorzuschlagen, scheint aber bislang mehr Angst vor der eventuellen eigenen Courage zu haben, als daß sie sich ernstlich Gedanken über eine derartige Lösung machte.

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