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Schlechter Start — gute Fahrt

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Unter den Erinnerungen, die uns das Jahr 1959 nahelegt, befindet sich auch eine solche schulgeschichtlicher Art: Es sind am 14. Mai 90 Jahre, daß Oesterreich das Reichsvolksschulgesetz (RVG) erhielt. Damit war ein jahrelanges Ringen um schulorganisatorische, im Grunde aber um kulturpolitische Fragen zu einem Abschluß gelangt, der natürlich nicht alle Teile befriedigte, vielmehr wegen seines Kom- promiß.charakters ein Gegenstand der Dauerkritik wurde.

Die Grundzüge des Gesetzes sind bekannt:

Festlegung einer achtjährigen Unterrichts- (nicht Schul-) Pflicht; Organisation einer achtstufigen allgemeinen Volksschule, deren Oberstufe unter günstigeh Bedingungen als drei- klassige Bürgerschule verselbständigt erscheint; interkonfessioneller Charakter der öffentlichen Volks- (und Bürger-) Schule; sittlich-religiöse Zielsetzung für die Erziehungsarbeit der Schule; Oeffentlichkeitsrecht für die privaten Schulen bei Einhaltung der staatlichen Rahmenforderungen; vierjährige Lehrerbildung auf der Grundlage der allgemeinen Schulbildung.

Das ist die Struktur des RVG. Sie begegnet uns in einer vorbildlich klaren Sprache und Gliederung. Das Gesetzwerk umfaßt nur 78 Paragraphen, die in den Hauptstücken: Zweck- und Einrichtung der Schulen, Schulbesuch, Lehrerbildung, Fortbildung und Rechtsverhältnisse der Lehrer und schließlich Privatlehranstalten eine im Rahmen der Gegebenheiten vorbildliche Ordnung des österreichischen Volksschulwesens, einschließlich der dafür bestimmten Lehrerbildung, darstellen.

Umwittert von den kulturpolitischen Spannungen, unter denen das RVG beraten und beschlossen wurde, hatte das neue Gesetz keinen sehr guten Start. Dazu käm die starke Belastung, die es fnit seinen fortschrittlichen Forderungen für die schulerhaltenden Gemeinden und Länder brachte, und die mißtrauische Sorge der bäuerlichen Bevölkerung, die unter den damaligen Wirtschaftsformen sehr stark auf die Mithilfe der größeren Schulkinder angewiesen war. — So fehlte es nicht an herber Kritik, wobei-allerdings die Bedenken der. äub:-. gen/Bevölkerungskreise gegen den weltanschaulich simultanen Charakter der „Neuschule“ im Vordergrund standen.

Die Schöpfer des RVG, Minister Hasner und seine Mitarbeiter, verwiesen — nicht ohne Berechtigung — darauf, daß sie zwischen den Forderungen der konservativen und der liberalen Gruppen eine gewisse Mittellinie eingehalten hatten. Zunächst war das Gesetz freilich praktisch ein Triumph der „freisinnigen“ Kulturpolitik; aber es enthielt ausreichende Ansätze für die Entwicklung eines religiös fundierten privaten Schulwesens mit den Berechtigungen des öffentlichen, und es gab ferner der Initiative eines gut geführten Religionsunterrichtes und religiös eingestellter Lehrpersonen einen gewissen Spielraum der Entfaltung.

In diese beiden Richtungen ging daher auch die Schulpolitik der christlichen Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten, soweit sie eine realistische Haltung zum RVG gewonnen hatte, ja, es konnte 50 Jahre später geschehen, daß die Religionsgemeinschaften sich gegenüber revolutionären Strömungen nach dem ersten Weltkrieg auf die sittlich-religiöse Zielsetzung des RVG und auf die rechtliche Stellung des Religionsunterrichtes zurückzogen und von hier aus ihre Positionen im Schulwesen verteidigten.

So hatte sich im Laufe der Zeit das Gesetz — vielleicht da und dort unabhängig von den Intentionen seiner Schöpfer — zum Segen der österreichischen Schule und Volkserziehung bewährt.

Eines stand freilich vom Beginn seiner Wirksamkeit an außer Zweifel: die kluge und maßvolle Haltung des Gesetzes im rein Schulorganisatorischen und Pädagogischen. — Daraus erklären sich auch die „Langlebigkeit“ wie der Vorbildwert des RVG, das in den 90 Jahren seit seiner Einführung nur wenige Novellierungen erforderte, aber sichtlich das Modell für die Volksschulgesetze einer Reihe anderer Staaten wurde.

‘ Wichtige Ergänzungen und Anpassungen des RVG an die pädagogische und kulturelle Entwicklung erfolgten in den Jahren 1883, 1905 und 1927, also in einem Rhythmus von zwei bis drei Jahrzehnten. Die Verordnung vom 8. Juni 1883 (MVB1. Nr. 17) berücksichtigte eine Reihe von Erfahrungen, die man seit der

Gesetzwerdung (14. Mai 1869) im Volksschulbereich gewonnen hatte, und bereinigte das schwierige Gebiet der vielfach eingelebten Schulbesuchserleichterungen sowie der Unterrichtsorganisation an den wenig gegliederten Landschulen mit präzisen Vorschriften. — Sehr bedeutsam wurde dann die Ergänzung des RVG durch die „Schul- und Unterrichtsordnung" vom 29. September 1905 (MVBD Nr. 49), die wohl als die umfassendste Schulvorschrift der ganzen österreichischen Schulgeschichte bezeichnet werden darf. Es finden in dieser Verordnung ebensowohl die Erfahrungen einer ganzen Generation seit dem Inkrafttreten der RVG wie auch die großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandlungen der Jahrhundertwende ihren pädagogischen Niederschlag. Schulerrichtung und -einrichtung, Klassengruppierung, Unterrichtszeit, Schulbesuch und -zeit, Schulzucht und Schülerbeurteilung sind dort ebenso geregelt wie die Rechte und Pflichten eines inzwischen herangewachsenen Lehrstandes mit höherer Allgemein- und Berufsbildung. Die Schul- und Unterrichtsordnung hat im wesentlichen das Gesicht der österreichischen Volksschule geprägt, wie wir sie besucht haben und kennen; sie hat einem gesunden pädagogischen Fortschritt die Wege bereitet; Grundsätze wie jener der Methodenfreiheit und die Ablehnung der körperlichen Züchtigung in der Schule sind in ihr verankert.

Fast ein Vierteljahrhundert später sollte das RVG noch einmal als tragfähig für einen Umbau angesehen werden: im Jahre 1927 trat durch das Hauptschulgesetz an die Stelle der bisherigen dreijährigen „Bürgerschule“ die vierjährige neue Hauptschule, wodurch sich automatisch eine Verkürzung der Volksschulnormalform auf vier Jahre ergab. — Man mag diese Abänderung des RVG als seine problematischeste Novellierung ansehen — sicher ist, daß die österreichische Bürgerschule eine der glücklichsten Schöpfungen des RVG war.

Die Jahre nach 1934, und noch mehr'jene nach 1938, brachten Abänderungen unseres Gesetzes, die vom heutigen Standpunkt aus als rechtlich fragwürdig anzusehen sind, in ihrer Gesamtheit aber doch bewirkten, daß sich nach 1945 eine Rechtsverbindlichkeit des RVG nicht mehr allgemein behaupten ließ. — Wie auf manchen anderen Gebieten trat ein Ex-lex-Zustand ein, der den Ruf nach einem neuen österreichischen Schulgesetz auslöste; in der Zwischenzeit aber blieb gegenüber dem tatsächlichen Erfordernis einer geordneten Schulbildung vielfach nur das Notrecht einer Weiterführung von

Volksschule und Lehrerbildung im Verwaltungswege. Für diesen aber war und ist der Rahmen des RVG und seine Anwendung per analogiam maßgebend, so daß unser Schulwesen nicht nur historisch, sondern auch in der derzeitigen faktischen Administration noch auf den Grundlagen des RVG ruht. Das ist natürlich kein befriedigender Zustand, da sich gerade auf pädagogischem Gebiete doch so viel verändert hat, daß manche Voraussetzungen gar nicht mehr existieren, unter denen dieses Gesetz geschaffen wurde (zum Beispiel Fabrikschulen und ähnliches), viele Probleme aber, mit denen die Schule der Gegenwart zu rechnen hat, bestanden natürlich 1869 noch nicht. — Aber selbst unter diesen Einschränkungen bleibt es erstaunlich, wieviel von diesem grundlegenden Schulgesetz heute, nach 90 Jahren, noch immer gut anwendbar und sogar durchaus zeitgemäß ist.

Der Entwurf eines Schul- und Erziehungs gesetzes, mit dem das Bundesministerium für Unterricht im Jahre 1948 an die Oeffentlichkeit herantrat — er hat aus innenpolitischen Gründen nicht die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften gefunden —, knüpft daher an vielen Stellen bewußt an die schulrechtliche Tradition des RVG an, und wahrscheinlich wird jede legistische Arbeit auf dem Gebiet des Elementarschulwesens dies auch künftig tun müssen — Grund genug, sich an die Gesetzwerdung vor 90 Jahren zu erinnern!

Als man in der bewegten Zeit nach dem ersten Weltkrieg, am 14. Mai 1919, den 50jähri- gen Bestand des damals noch vollgültigen Gesetzes beging, schrieb Unterstaatssekretär Otto Gl ö ekel im Vorwort einer Festbroschüre: „Das RVG hat außerordentlich segensreich gewirkt. Es liegt in der Natur der Sache, daß heute viele seiner Bestimmungen weit überholt sind.“ Und er spricht in der Folge davon, daß jede zeitgemäße Schulreform das Werk Hasners verständnisvoll fortführen müsse. — Vier Jahrzehnte später, und nach neuerlichen gewaltigen Umwälzungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, gehört die Rechtswirksamkeit des Gesetzes bereits der Vergangenheit an, ist aber auch ein sehr bedeutendes Stück österreichischer Schulgeschichte geworden. Wir kennen heute die kulturpolitische Dialektik, welche das RVG ausgelöst hat, aber wir schätzen und bewundern auch die Sorgfalt, Sachkenntnis und die hohen menschlichen Intentionen, die hinter diesem Gesetzwerk standen. Wer diese kennenlernen will, der wende sich dem Motivenbericht des Ministers Hasner zu, wie ihn die obgenannte Festschrift des „Deutsch-österreichischen Unter richtsamtes“ aus dem Jahre 1919 bringt. Ebendort finden sich aber auch die Gutachten, welche die Ausschüsse des Abgeordneten- und des Herrenhauses der alten Monarchie über das RVG bei seiner parlamentarischen Behandlung erstatten. In dem letzteren heißt es: „Der Gesetzentwurf stellt der Volksschule ein würdiges Erziehungsideal und öffnet dem Geiste der modernen Pädagogik einen breittn Zugang.“ — Das ist bei aller sichtlichen Zurückhaltung ein sehr positives Urteil, das die wesentlichen Vorzüge heraushebt.

Ein kommendes österreichisches Schulgesetz wird als Nachfolgewerk des RVG manches zu berücksichtigen haben, was seither an völlig neuen Aspekten für eine schulgesetzliche Regelung maßgebend geworden ist, zum Beispiel die Respektierung des Elternreohtes, wie sie von der Charta der Menschenrechte gefordert wird. Es wird sich aber auch ein solches modernes Gesetz gar vieles von den formalen und materialen Qualitäten des nunmehr 90 Jahre alt gewordenen RVG zum Vorbild nehmen dürfen und seine Aufgabe nur dann wirksam erfüllen, wenn man auch von ihm sagen kann, daß es — so wie vor 90 Jahren das RVG — der österreichischen Volksschule ein würdiges Erziehungsideal für unsere Zeit stelle und in allen seinen Bestimmungen dem Geiste der zeitgenössischen Pädagogik einen breiten Zugang eröffnet, wohl wissend um den pädagogischen Notstand, der heute in ganz anderer Form als vor 90 Jahren auftritt, aber wieder ein Schulgesetz verlangt, das — nicht in allen seinen Intentionen, aber in seinem geistigen Format — dem alten RVG gleichen sollte

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