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Schule und Charakterbildung

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Zehnuhrpause. — Unter den noch kahlen Linden des Schulgartens wirbeln sie fröhlich durcheinander, plaudern und lachen. Auf den ersten Blick kann man sie nicht auseinanderhalten, die Schülerinnen des Realgymnasiums und die Zöglinge der Lehrerinnenbildungsanstalt. Der erfahrene Beobachter jedoch sieht Unterschiede, die bis in die Strukturierung der Persönlichkeit hineinreichen.

Vor einigen Jahren sind sie vielleicht noch miteinander auf der Schulbank gesessen, dann haben sich ihre Wege getrennt. Die einen setzten ihre Studien auf der Oberstufe der Mittelschule fort, die anderen traten in die Lehrerinnenbildungsanstalt über.

Vor zwei oder drei Jahren hat man noch miteinander für Winnetou geschwärmt oder für neue Modejournale, heute — ich meine jetzt die Durchschnitts-Obermittelschülerin —, heute begeistert man sich für Musik und Kunst, für Theater und Konzert, für Bücher und moderne Tänze, man arbeitet besonders intensiv an der Ausbildung in der modernen Fremdsprache, es gibt auch Mathematikliebhaber, kurz, man ist weit offen für den Reichtum der Kultur, den unsere Zeit einem jungen Menschen mit regem Geist bietet. Je näher dann die Reifeprüfung kommt, desto schärfer unterscheidet man zwischen Fächern, die man braucht, um durchzukommen, Fächern, für die man ein persönliches Interesse empfindet, vielleicht sogar in Verbindung mit ganz bestimmten Berufswünschen, und Fächern, die man, so gut es geht, links liegen läßt. Man ist jung, man lernt zunächst und in erster Linie für sich selbst, man fühlt bewußt oder unbewußt, daß Eltern, Schule, Lehrer usw. zur Förderung der eigenen persönlichen Entfaltung beitragen, man setzt auch gesunde, hoffnungsvolle Triebe an, aber man hat noch kein klares Ziel über das Allgemein-menschliche hinaus, höchstens ein Allgemein-frauliches. So fehlt der Anruf von außen, die Aufgabe, der Ausblick auf die Lebenserfüllung. Die Entfaltung, so hoffnungsvoll sie ist, bleibt im Ich beschlossen, findet keinen Ansatz für zielbewußtes Tun. Daher viel überschäumende Kraft, laute Ungebärdigkeit, Ungeformtheit. Kein Wunder, denn den von innen quellenden Kräften muß erst von außen ihre Grenze gesetzt werden.

Ich bin weit davon entfernt, diese Entwicklung einfach zu verurteilen. Man hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder verlangt, daß die Berufswahl möglichst weit hinausgeschoben werde, man hat die Bedeutung der Allgemeinbildung vor der Berufsbildung geltend gemacht. Persönlichkeitsgestaltung besteht zum Großteil darin, daß wir auswählen, das heißt, daß wir das unserem Wesen Gemäße betonen und manches liegen lassen, weil es unserer Art nicht entspricht. Aber diese Auswahl geschieht, solange wir kein festes Ziel im Auge haben, einseitig nach der Struktur unseres Wesens und noch nicht nach den Forderungen der Aufgabe unseres Lebens. So fehlt während der Mittelschulzeit noch das Moment der Spannung, der wechselseitigen Bedingtheit, der gegenseitigen Begrenzung. Das ist irgendwie problematisch, denn einerseits soll wirklich die Berufswahl nicht verfrüht werden, anderseits aber kann ich einen notwendigen Prozeß der Formung nicht hinausschieben, wo es sich um das Werden einer geschlossenen Persönlichkeit handelt.

Ich wollte nur unsere Mittelschülerinnen mit den Zöglingen der Bildungsanstalt vergleichen und bin auf eine viel tiefere Schicht in der Problematik vorgestoßen. Die Unruhe, weil Ziellosigkeit, weil Planlosigkeit unserer Kinder, kommt daher, daß sie in eine Kultur hineingestellt sind, daß sie sich mit einer Kultur auseinandersetzen sollen, die selbst aus der Ordnung gefallen, formlos, ja fast chaotisch auf sie einstürzt. Nur da, wo eine feste Familientradition noch einen sicheren Boden bietet oder wo bereits klar entwickelter Berufswille den Weg durch die Wirrnis weist, wird der Jugendliche die Auswahl unter den auf ihn einstürmenden Kulturgütern so treffen, daß sie wirklich gestaltend auf ihn wirken, daß sie in ihm fruchtbar werden können.

Und damit ist auch der Ansatzpunkt zu meinem Vergleich gefunden: Was wir in der Mittelschule bei den meisten Mädchen noch vermissen, den klaren Berufswillen, das finden wir in der Lehrerinnenbildungsanstalt, und darum auch eine klarere Persönlichkeitsgestaltung.

Scheinbar eine bunt zusammengewürfelte Schar ist’s, die sich im ersten Jahrgang zusammengefunden hat, und vorerst bilden sich scharf abgegrenzte Gruppen: Mittelschülerinnen, Absolventinnen von Wiener Hauptschulen und Landkinder aus dem Waldviertel, aus dem Burgenland und aus der Mistelbacher Gegend. Unbeholfen sind manche noch und scheu, doch gerade sie bringen das kostbare Etwas mit, das, vorerst noch verborgen, bald zum Gemeinbesitz aller werden soll: die Liebe zum künftigen Beruf, die Liebe zum Kind. Viele von ihnen haben schon in ihrer Weise die Atmosphäre der Schulstube in sich aufgenommen, entweder weil sie in einem Schulhaus zwischen elterlicher Stube und Klassenzimmer groß geworden sind oder weil sie die Schule als Kulturzentrum ihres Heimatortes erlebt haben. Hier umgibt sie eine ähnliche Luft wie daheim, in einer Schule, die eine ganze Welt in sich beherbergt, vom Kindergarten an, der im Garten in der Sandkiste baut, bis zu den Dreizehnjährigen, in deren Augen schon ein heimliches Bild vom Leben glänzt, wie sie sich’s träumen. Ohne Bruch fügt sich das erste Studienjahr an das bisher Gewohnte, baut sich in die vertraute Atmosphäre ein. Man findet es selbstverständlich, daß man bald mit herangezogen wird zur Betreuung der Jüngsten, zur Mithilfe in der Ordnung. Man bekommt das, was man Familiensinn nennt.

Die wissenschaftliche Ausbildung ist der des Realgymnasiums angeglichen, sie kommt mitunter in Kollision mit der praktischen Berufsausbildung, fünf Jahre sind für die Doppelaufgabe sicher zu kurz, wir alle würden uns sechs wünschen, aber die Formkraft der geschlossenen Bildungsarbeit ist größer. Fachliche Spitzenleistungen in den wissenschaftlichen Fächern kommen seltener vor, die Zeit fehlt zu solchen Sonderaufgaben. Dieser Ausfall ist aufgewogen durch die methodischpraktische Fähigkeit und durch den Willen, weiterzugeben, was man erworben. Und wo Absolventen der Bildungsanstalten in vereinzelten Fällen sich dem Hochschulstudium zuwenden, stehen sie den anderen nicht nach. Manche haben auch andere Berufe gewählt und überallhin die Sicherheit und Kraft einer klaren Lebenshaltung mitgenommen. Ihre Prüfung gibt ihnen ja außer der Berufsausbildung freie Bahn in alle Berufe, die eine Maturitätsreife fordern, und es hat sich gezeigt, daß die Ausbildung zur Lehrerin dabei niemals ein Hemmnis, im Gegenteil ein Vorteil war.

Meine Erfahrung beschränkt sich auf die weibliche Jugend. Nur theoretisch kann ich feststellen, daß es für einen männlichen Lehramtsanwärter von 18 Jahren noch schwerer sein muß, den Weg zum Kinde zu finden, wenn er den Kontakt durch die Mittelschule einmal verloren hat. Das Mädchen kann durch seine frauliche Berufung den Weg zum Kinde nie ganz verlieren.

Schluß der Enquete

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