Schule und Corona: Lernen mit Kafka

19451960198020002020

Viele Schüler(innen) seien durch Corona „noch weiter abgehängt“ worden, heißt es. Muss es im Schulsystem immer ein „oben“ und „unten“ geben? Ein Gastkommentar von Katharina Tiwald.

19451960198020002020

Viele Schüler(innen) seien durch Corona „noch weiter abgehängt“ worden, heißt es. Muss es im Schulsystem immer ein „oben“ und „unten“ geben? Ein Gastkommentar von Katharina Tiwald.

Werbung
Werbung
Werbung

Manchmal würde ich, wenn ich mit traniger Stimme gefragt werde, ob denn „viele Ausländer“ in meiner Wiener NMS-Klasse sitzen, am liebsten zubeißen. Offenbar reicht es nicht, darauf hinzuweisen, dass das österreichische Völkchen eine Promenadenmischung ist; jede Form abstrakter Argumentation aus dem humanistischen Fundus flutscht dieser Tage, da ein „Gutmensch“ als naiver Trottel gilt, sowieso ungebremst durch die Gehörgänge. Ich werde also konkret.

Ich unterrichte an einer NMS am Wiener Stadtrand hauptsächlich Kinder, die in Wien geboren sind. J., der Sikh, der seine sechs Meter Turbantuch alleine wickeln kann, wie er stolz berichtet, klingt wie ein Wiener, ist aber afghanischer Staatsbürger. L., Tochter einer serbischen Putzfrau, schreibt fehlerfreie Aufsätze, weit über dem Niveau ihres Sitznachbarn, eines eingeborenen Wieners. R. habe ich heuer in einem APA-Workshop für Oberstufenschüler untergebracht, auf Basis ihrer Leistung; ihre Eltern kommen aus Bangladesch, ihr Vater ist Taxifahrer. Und die vorlauteste Schülerin, die ich jemals hatte, war die einzige Kopftuchträgerin der Klasse. Ich bin der Zuschreibungen so müde. Sie sind Zeichen der Entindividualisierung einer ganzen Klasse von Menschen, während diejenigen, die es sich leisten können, per „Individualurlaub“ das Allerweiteste suchen, um dem Nachbarn nicht am Strand zu begegnen.

Gemachter Riss in der Gesellschaft

Was lese ich dieser Corona-Tage in den Zeitungen? Nachrichten darüber, dass jetzt halt die Bildungsfernen, die mit dem Migrationshintergrund, schulisch „noch weiter“ abgehängt werden; das wird auf die Frage, wie es um die digitale Ausstattung bestellt sei, heruntergebrochen – Anekdote am Rand: Die vielbesungenen Leihlaptops für bedürftige Kinder wurden brandneu geliefert, also nicht aufgesetzt und ohne Programme – und es wird so getan, als gäben acht Wochen „Home-Schooling“ plötzlich den Ausschlag gegenüber der jahrelangen Arbeit gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern. Als gäbe es nicht schon die längste Zeit einen Riss in der Gesellschaft, der gemacht ist. Dem Konstrukt von den „Guten“, die in der AHS sitzen, und den „Abgehängten“, die als arme Mäuschen halt in die NMS gehen, wird dadurch noch ein Scheibchen draufgepackt. In diesem Denksystem haben es sich auch ein paar von denen gemütlich gemacht, deren Aufgabe es sein sollte, durchaus pathetisch das „Feuer der Bildung“ weiterzutragen. Beispiel gefällig? Eine Bekannte, die im „Teach for Austria“-Einsatz als Quereinsteigerin an eine Wiener Brennpunktschule geschickt wurde, erzählte, sie habe mit einem Arbeitsprogramm darauf reagiert, dass die Vierzehnjährigen die Kontinente nicht benennen konnten – und sei im Kopierkammerl von einer älteren Kollegin wörtlich gefragt worden: „Wozu müssen unsere Kinder wissen, wo Afrika ist?“

Navigator

Liebe Leserin, lieber Leser!

Diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE-Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.

Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger-Fleckl (Chefredakteurin)

Diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE-Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.

Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger-Fleckl (Chefredakteurin)

Der Anspruch muss wieder zu seinem Recht kommen – und er erschöpft sich nicht im Bedienen digitaler Tools.

Katharina Tiwald

Mit einer solchen Einstellung hilft man der sprichwörtlichen Prophezeiung dabei, sich
weiterhin zu erfüllen: Es muss eben ein „unten“ und ein „oben“ geben, „diese“ Kinder und die anderen, einen Gscheiten und einen Blöden wie weiland im Kabarett, abzüglich dessen subversiver Kraft. Lehrende mit einer solchen Weltsicht auf Kinder in NMS loszulassen ist natürlich fatal, spiegelt aber wider, was offensichtlich Mehrheitsmeinung ist, sonst hätten wir längst ein anderes Schulsystem. Dagegen wird in der Realität an vielen NMS-Standorten Arbeit geleistet, die diesem Geist diametral entgegensteht: zum Beispiel von der Kollegin, deren Freewriting-Klasse sich 2018 den exilLiteraturpreis erschrieb.

Zum Beispiel vom Kollegen, zu dem noch Jahre nach ihrem Abschluss ehemalige Schüler kommen, wenn sie einen lebenspraktischen Rat brauchen („Abgrenzung“ ist ein Wert, den man wohl eher in der AHS vermittelt bekommt). Ja, bei uns werden Kinder „abgestellt“, die andere Schulen nicht haben wollen. Ja, bei uns gibt es Kinder, die auch nach vier Jahren Deutschunterricht horrende Fallfehler machen (wie der burgenländische Kollege übrigens, der jahrzehntelang Deutsch unterrichtete). Ja, kürzlich hat sich eine Schülerin an meiner Schulter ausgeweint, weil ihr vorbestrafter Bruder tagelang verschwunden war. Ja, manchmal ist Polizei in der Schule (und nicht nur dann, wenn die Kontaktbeamten ihre Workshops bei uns machen). Ja, manchmal ist das Niveau nur drei Käse hoch. Aber es widert mich an, wie von vornherein so getan wird, als müsse es dann eben ein Programm zweiter Klasse geben.

Die Literatur wird geopfert Wo steht geschrieben, dass nur ein Maturant im literarischen Kanon firm sein muss – beziehungsweise: darf? (Fußnote: mittlerweile ohnehin ein Mythos – mit der Literatur wird Schindluder getrieben bei der Zentralmatura, sie wird geopfert auf dem Altar der Vergleichbarkeit und der Testung.) Als wegen Corona die Exkursion nach Mauthausen abgeblasen werden musste, waren meine vierten Klassen schwer enttäuscht – sangen aber munter mit Brechts Stimme vom Band „Die Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens“ mit, mein spontanes Ersatzprogramm. Kafkas „In der Strafkolonie“ wurde unvorhergesehen zur Corona-Hauslektüre: im Wissen, dass Dreizehnjährige mit Texten dieser Art überfordert sein werden, aber im Vertrauen darauf, dass wir nach dem Shutdown gemeinsam darüber sprechen können. Kafka kennen meine Schüler(innen) seit einem Stückchen aus der „Verwandlung“ und unserem Ausflug nach Kierling, wo in Kafkas Sterbezimmer Manfred Müller, Chef der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, den Kindern diesen Autor auf ganz wunderbare Weise nahbar gemacht hat. Warum ich das alles erzähle? Erstens: Arisch werden wir nimmer, Gott sei Dank. Zweitens: Der Anspruch muss wieder zu seinem Recht kommen – und der erschöpft sich weder im Benennen von Nebensatzarten noch im Bedienen digitaler Tools. Drittens: Schule ist zuallererst ein Ort des Gesprächs. Geht’s den Schülern gut, geht es allen gut. Das gilt auch für die NMS.

Die Autorin ist Lehrerin und Schriftstellerin. Jüngst erschienen: „Macbeth Melania“ (Milena 2020).

Navigator

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung