6542084-1946_46_06.jpg
Digital In Arbeit

Schule und Leben

Werbung
Werbung
Werbung

Das ist ein altes Wort: Nor. scholae, sed vitae diseimus — nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Daß uns dieser Ausspruch Senecas so geläufig ist, bedeutet noch keinen Beweis dafür, daß man ihm auch tatsächlich immer gerecht wird.

Zunächst erscheint es ja als die selbstverständlichste Sache, daß man die Schule nicht um ihrer selbst willen besucht, sondern um von ihr für das Leben vorgebildet zu werden, und als eine Hilfseinrichtung zur Lebensbewältigung ist ja auch die Schule entstanden. Immer und überall pflegt es in der geschichtlichen Entwicklung so zu sein, daß beim Erreichen einer bestimmten Kulturhöhe die bloße Assimilation nicht mehr ausreicht, um die Güter und Techniken von einer Generation auf die andere zu überliefern. Dann entstehen besondere Einrichtungen zur gesicherten Weitergabe dieses Besitzes und das sind eben die ersten Schulen.

Von den religiösen Werten aller Hochkulturen gilt das in erster Linie und darum begegnen uns irgendwelche Formen von Tempelschulen meist sehr früh. Eine andere Entwicklungslinie führt gleichfalls zur Verschulung herauf und das sind die Jugendweihen, die Initiationen, die eine fast allgemeine Entwicklungsstufe pädagogischer Evolution der Völker darstellen. Was dort an Sitte und Brauch, an Waffen- und Werkzeugtechnik überliefert wird, sprengt den Rahmen eines b'oßen Kursus, sobald auch das Lesen und Schreiben einer Schrift zu den lebenswichtigen Kulturgütern gezählt wird, denn diese Kenntnisse erfordern eine methodische Vermittlung und eine jahrelange Übung — eben eine Schule.

Wir können diesen Gang der Dinge sehr anschaulich in der Entwicklung des griechischen Bildungswesens beobachten; und so sind alle unsere Schulen als Helfer und Diener des Lebens begründet und gewollt, dennoch kommt es im Laufe der Zeiten immer wieder dazu, daß zwischen Schule und Leben eine Entfremdung entsteht. Das liegt in der Verselbständigung des Bildungswesens begründet, das mit seiner wachsenden Bedeutung ein Organismus sui generis wird, eine Einrichtung mit eigener Tradition, mit umschriebenen Aufgaben und liebgewonnenen Bildungsgütern. Es ist dabei auch die Tatsache zu berücksichtigen, daß jedes hochentwickelte Bildungswesen neben den materiellen Werten, das sind solche, die geistiger Besitz werden sollen, auch formale in sich schließt, also Dinge, die nicht sosehr um ihrer selbst willen gepflegt werden als* vielmehr darum, weil die Beschäftigung mit ihnen besonders geeignet ist, geistige Fähigkeiten zu entwickeln und zu schulen, wie das etwa von der Pflege „toter“ Sprachen, von manchen Gebieten der Mathematik und ähnliches gut. Derartige Bildungsinhalte stehen dann nur mehr in mittelbarem Zusammenhange mit dem Leben und geben leicht zu dem Vorwurfe Anlaß, die Schule entfremde sich und damit ihre Schüler dem tatsächlichen leben und seinen Erfordernissen, anstatt ihm zu dienen.

Dazu kommt dann noch., daß ein ausgebautes Schulwesen dur.h seine gesetzlichen Grundlagen, du-rch festgelegte Lehrpläne, durch eingebürgerte Schulbücher und Lehrbehelfe einen gewissen statischen Charakter annimmt, der nach einiger Zeit als Widerspruch zu der Dynamik des Lebens empfunden wird. In dieser Situation ertönt dann der Ruf: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen!“ mit einer gewissen Schärfe, und zwar nicht erst in neuerer Zeit. Schon 1445 wandte sich Äneas Silvius Piccolomini, der glänzendste Vertreter des Geistesleben seiner Zeit, hier in Wien gegen den lebensfremden Vorlesungsbetrieb der damaligen Universität und immer wieder im Laufe der schul-geschichtlichen Entwicklung begegnen uns solche „Schübe“, Reformbewegungen, die mit mehr oder weniger Berechtigung die Verbindung zwischen Schule und Leben wieder herstellen zu müssen glauben.

In diesem Zusammenhang gehört auch das, was man die Wiener Schulreform nach 1918 genannt hat. Das Schulwesen Österreichs hatte durch die Mittelschulgesetze des Jahres 1849 und durch das Reichsvolksschulgesetz von 1869 eine eigene, in sich geschlossene Gestalt erhalten, war in seiner Leistungsfähigkeit anerkannt und so durch Jahrzehnte im alten Österreich ein ruhender Pol in den fluchiigen Erscheinungen des staatlichen Lebens gewesen. Aber gerade in diesen Zeiten um die Wende des Jahrhunderts hatte das Leben eine stürmische Weiterentwicklung genommen, der die Schule zunächst abwartend gegenüberstand. Als sich im pädagogischen Denken ein Bewußtwerden des auf solche Weise entstandenen Abstandes vollzog, war wieder einmal der Augenblick gekommen, in dem Leben und Schule einander nähergerückt werden. Man hat es damals so gemacht, daß man das Leben in die Schulstube rief, das heißt den Unterricht lebensnah gestaltete, die Bildungsgüter auf ihre Lebensnähe und -Wahrheit prüfte und bemüht war, die Arbeitsmethoden dem Leben abzulauschen. Soviel über die pädagogischen Tendenzen der Schulreform — sie hatte auch andere — und das war in der Tat eine Lösungsmöglichkeit des spannungsreichen Problems Schule und Leben, aber eben doch nur eine Möglichkeit und als solche von begrenzter Wirkung

Es wäre doktrinär, wollte man nur diesen Weg sehen, ,und manche unserer Zeitgenossen stehen in Gefahr, das Verhältnis Schule und Leben für alle Zeit nur unter dieser im Grunde doch schulmeisterlichen Perspektive zu betrachten.

Aber es gibt auch eine andere Lösung unseres Problems und wenn der gewaltige Umbruch dieses zweiten Weltkriegsendes mit allen Zeichen einer wahren Zeitenwende gebieterisch verlangt, daß wir Schule und Leben von neuem in ein synthetisches Verhältnis bringen, so erscheint es diesmal als das nötigste, die Schule in das Leben zu stellen, nicht mehr wie vormals das Leben in die Schule zu tragen! Diese Formulierung, die von einem scharfblickenden Schulpolitiker unserer Tage stammt, beruht nicht etwa auf einem bloßen Spiel mit Worten oder Begriffen, sondern sie ist vielmehr der Ausdruck für einen Tatbestand, dem man eben nicht mit den Methoden der gestrigen Reform-pädagogik gerecht werden kann.

Der tiefere Grund dafür, warum wir alles daransetzen müssen, bei den künftigen Gestaltungen unseres Bildungswesens mit nüchternem Realismus vorzugehen, um die Schule dem Leben ganz nahezubringen, ist eben die Schicksalsfrage dieser Zeit selbst: die Lebensbewältigung, das Existenzialproblem! Von den drängenden kleinen Fragen des Alltags über die Stufenreihe der Sozialbeziehungen hin-arf bis zu den letzten psychologischen und philosophischen Problemen von heute begegnet uns schier überall und immer wieder die bange Frage, wie der Mensch dieses so unbändig und so unsäglich schwer gewordene Dasein wieder meistern könnte. Aus diesem Problem aber erwächst dann eine ganz neue und trotz aller Schulreform von gestern ungeheuerlich empfundene Spannung zwischen Schule und Leben!

Es überschritte den Rahmen dieser grundsätzlichen Überlegung, wollte man nun auch eingehen auf all die Einzelforderungen, die sich aus dieser pädagogischen Situation ergeben, und so sei nur auf einige Erscheinungen hingewiesen, die diese Lage der Dinge bezeichnen.

Da ist zunächst die Tatsache, daß wir im gesamten Bildungswesen einen Zug zur Ausgestaltung des Fach- und Berufsschulwesens aller Stufen erkennen, daß für alle diese fachlichen Schulbahnen die Vorschaltung einer Eignungsprüfung und für jede Berufswahl eine Berufsberatung verlangt und angestrebt wird, daß manche Lehrgegenstände in den Augen der Eltern ob ihrer Lebensnähe eine neue Bedeutung gewinnen, so besonders der hauswirtschaftliche Unterricht der Mädchen, der auf dem besten Wege zu einer wahren Lebenskunde ist und der für das ganze weibliche Bildungswesen immer mehr als eine unabdingbare Notwendigkeit erkannt wird, so die Knabenhandarbeit, die ganz andere und weit lebensnähere Wege zu beschreiten beginnt als das „Basteln“ der Schulreformzeit, so der Unterricht in manchen Fremdsprachen, der in lebendigster Art schon in früheren Klassen erteilt wird, da ist die Ausgestaltung des Schulfunks und des Schulfilms mit ihren ungeheuren Möglichkeiten. Um nur einiges zu nennen, das uns zeigt, wie die Schule von heute und morgen die unmittelbare Nähe des Lebens sucht Vieles wird noch geschehen müssen und leicht geschehen können, um die Schule von jedem Vorwurfe der Selbstgenügsamkeit und des Selbstzweckes zu befreien, um sie zur wahren Dienerin des Lebens zu machen, die dem Menschen einer neuen Zeit dazu hilft, dieses Dasein aus einer Last wieder u einer Gabe und Aufgabe zu machen, zur Erfüllung des Schöpferwortes: Machet euch die Erde Untertan!

Nicht als Sklaven einer übermächtig gewordenen äußeren Welt und entfesselter untermenschlicher Gewalten, sondern als Ebenbilder Gottes, die das Leben für Zeit und Ewigkeit bejahen, so sollen die Menschen wieder ihre Existenz begreifen und bewältigen. Eine Schule aber, die dazu den Weg bereitet, wird dann wieder mit vollem Rechte sagen dürfen, daß man nicht für sie, sondern für das Leben lerne. ■

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung