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Schulsorgen auch in Italien

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Fast gleichzeitig mit Österreich hat auch Italien im Vorjahr eine gesetzliche Neuordnung des Schulwesens durchgeführt. Diese betraf freilich nicht das Ganze der Schulorganisation, sondern nur die Schule der 11- bis 14jäh-

rigen; aber gerade diese an die fünfjährige Volksschule anschließende Mittelstufe ist seit langem ein Sorgenkind der italienischen Schulverwaltung und ein Prüfstein der Volksbildung des Landes, denn im großen Teilen Italiens bestand bisher keine ausreichende Vorsorge für den allgemeinen Schulbesuch nach dem Verlassen der fünfjährigen Volksschule. Viele Kinder, die nicht den zur Reifeprüfung führenden Bildungsweg einschlugen, besuchten daher bis heute nur fürrf Jahre lang die Schule und traten darm,-höchstens mit einer bescheidenen Elementarbildung ausgerüstet, in das Erwerbsleben, wo für sie wieder nur die ungelernten Beschäftigungen in Betracht kommen, oder sie verloren kostbare Jugendjahre bis zum Anfang jener Laufbahnen, die man erst mit 14 Jahren beginnen kann.

Es ist verständlich, daß dieser Zustand mehr als unbefriedigend war, und so drängten Schule und Elternschaft seit Jahren immer stärker auf eine Neuorganisation der Mittelstufe, was gleichzeitig die wirkliche Durchführung der bisher oft nur auf dem Papier bestehenden achtjährigen allgemeinen Schulpflicht bedeuten muß.

Die Einheitsmittelschule

Die Form dieser Schule der 11- bis 14jährigen war dadurch zum Gegenstand langwieriger Auseinandersetzunigen geworden. Schließlich hat man sich unter dem starken Druck der Linkskreise für die Einführung der „scuola media unificata“, der Einheitsmittelschule, entschlossen, und am 21. Dezember 1692 verabschiedete das Parlament mit 243 Ja-Stimmen gegen 137 Nein-Stimmen das neue Mittelschulgesetz.

In den langen Zeitungs- und Parlamentsdiskussionen war vor allem zum Ausdruck gekommen, daß die Stellung des Lateinunterrichtes in dieser Mittelschule die stärksten Bedenken erregte. Als allgemeine Pflichtschule kann die „media“ kaum einen obligaten Lateinuntierricht führen. Ein Freifach aber — und nur das wird Latein künftig für die 11- bis 14jäh-rigen italienischen Schüler sein — ist natürlich in seiner bildenden Wirkung sehr problematisch. Da aber nun die Einheitsmittelschule als einziger Zugang zu den verschiedenen Formen des gymnasialen Unterrichtes („liceo“) fungiert, ist die Sorge um die Vorbildung für das Lateinstudium auf der Oberstufe verständlich.

Dabei darf man nicht übersehen, daß in Italien der lateinischen Sprache eine etwas andere geistesgeschichtliche Bedeutung zukommt als etwa bei uns, denn das Italienische ist ja eine Tochtersprache des Latein und der Italiener

sieht sich zum Beispiel auf Schritt und Tritt von lateinischen Inschriften umgeben.

Vergeblicher Widerstand

Alle Argumente zu dieser Frage

waren natürlich Gegenstand lebhafter Erwägungen, doch fiel die Entscheidung schließlich auf Grund der gegebenen politischen Situtation, das heißt im Sinne der von den Linkskreisen geforderten Einheitsmittelschule ohne obligaten Lateinunterricht. Das sehr beachtliche Stimmenverhältnis haben wir oben angegeben. Der Widerstand der kirchlichen Stellen gegen diese Neuordnung war zwar in den einzelnen Fällen schroff, so zum Beispiel von leiten des vatikanischen Prälaten Dino S t a f f a, im ganzen aber ohne Durchschlagskraft — man wollte offenbar der schwerbedrängten Regierung des christlich-demokratischen Ministerpräsidenten F a n f a n i nicht noch größere Schwierigkeiten bereiten.

So ist nun die Einheitsschule eine gesetzlich verankerte Tatsache geworden, und sie wird von manchen Seiten als eine große Errungenschaft hingestellt, was sie vom Standpunkte des sozialistischen Sehulprogrammes aus auch tatsächlich ist. Zu ihrer Reali-

sierung bleibt freilich noch ein weiter Weg zu gehen.

Daß es bei einer Durchsetzung eines allgemeinen Schulbesuches der Kinder von 11 bis 14 Jahren allenthalben an Schulraum fehlen ward, war vorauszusehen und soll durch ein paralleles Schulbauprogramm überwunden werden. Zunächst wird es aber sehr viel Wechselunterricht geben. Noch schwerer aber dürfte es sein, die personellen Voraussetzungen für die Einheitsmittelschule zu schaffen, da jetzt naturgemäß ein sprunghaft anwachsender Lehrerbedarf entsteht, für den die reguläre Ausbildung erst im Laufe von Jahren aufkommen kann.

Eine kritische Stimme

Wie problematisch die italienischen Schulverhältnisse in dieser Hinsicht nun geworden sind, das illustriert Renato L a 11 i in der Zeitschrift „Traguardo“ (Folge H/1963) in kritischer Weise so:

„Wir sind mit der Ausdehnung des Schulsystems einverstanden und nehmen sie mit Freude zur Kenntnis. Längst sind die Zeiten vorbei, da man in den Gemeinden Unteritaliens mit Mühe und Not bis zur dritten Volks-

schulklasse kam; in vielen dieser Orte gibt es heut nicht nur die Volks-, sondern auch eine Mittelschule.

Damit man jedoch die Verbreiterung des Schulwesens als einen positiven Faktor bezeichnen könne, ist es notwendig, daß sich auch das Wissen dadurch verbreitere. Geschieht das heute auch? Man kann daran zweifeln.

Die Schule hat jetzt bei uns jene Funktion, die einst der Aufforstung zukam, als wir die Arbeitslosigkeit überwinden mußten. Man spricht bei uns von einem .intellektuellen Hand-langertum' und meint damit die arbeitslosen Akademiker; und für diese ist nun eine Lösung gefunden: Wer nicht weiß, was er tun soll, oder wer es in seinem Beruf nicht weiterbringt, wer sein mageres Einkommen verbessern will, findet dazu jetzt einen Weg offen — die Schule! Juristen, Ärzte, Apotheker, Tierärzte, Studenten aller Fakultäten — sie alle finden in der Schule nun einen Platz bereit. Es ist so weit gekommen, daß Ärzte und Tierärzte den Bürgermeistern die Bedingung stellen, an der örtlichen Mittelschule unterrichten zu dürfen. Und man ist großzügig gegenüber allen denen, die nicht die erforderliche Prüfung abgelegt haben. Aber wie schwer ist es anderseits für jene, die eine volle Lehrfähigkeit besitzen, eine der wenigen definitiven Stellen zu erhalten! Und so bildet sich ein höchst ungesunder Zustand heraus.

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