6651803-1959_05_14.jpg
Digital In Arbeit

Schwarz-Rot diskutiert Schwarz-Weiß

Werbung
Werbung
Werbung

VOR ETWAS MEHR ALS 30 JAHREN verkündete einer meiner Professoren bei passender Gelegenheit: „Ein gebildeter Mensch geht nicht ins Kino!“ Diese Ablehnung schien uns jungen Menschen gerade auf dem Höhepunkt der Stummfilmkunst ganz falsch und so kümmerten wir uns nicht um diese Worte. Immerhin mochte man damals auch sagen: „Ich fahre nicht mit dem Auto", aber mit Rücksicht auf seine gesunden Knochen respektierte man die Motorfahrzeuge. Seither hat die Zahl der Autos und der Verkehrsunfälle so stark zugenommen, daß auch der verbissenste Feind der lärmenden Vehikel die Notwendigkeit einer Verkehrsregelung und Verkehrserziehung anerkennt.

Auch der Kinobesuch hat in Oesterreich gewaltig zugenommen - es gibt heute 1300 Kinos in unserem Land — und in der Oeffentlichkeit wird dem Kino die Schuld an der Verbrechenswelle unter den Jugendlichen wie auch an anderen unerfreulichen Ereignissen zugeschoben. Diese Meinung wird vielfach von Lehrern vertreten, die nach Verbots- und Zensurmaßnahmen rufen. Man sollte nun annehmen, daß sie — schon aus pädagogischen Gründen — außer den Filmkunstwerken auch die wichtigsten, von ihren Zöglingen mit Leidenschaft besuchten Streifen kennen, aber symbolhaft erklärte erst dieser Tage ein Wiener Oberschulrat auf einer Filmtagung: „Ich geh’ eigentlich nie ins Kino!“ Andere gebildete Menschen sind nicht so offenherzig, aber auf Befragung hört man sehr oft diese Erklärung: Daher wissen die Schüler meist weit mehr über den Film als ihre Lehrer und Eltern. Allerdings wissen sie nicht das Wesentlich? und können, zwischen Wett p.nd Unwert" mcW unterscheiden. U‘IU

DIESE FILMFREMDHEIT, JA FILMFEINDSCHAFT ist für einen Teil der alten Lehrerschaft, aber auch für viele andere Angehörige der Bildungsschicht kennzeichnend. Gewiß, das Kinoprogramm ist — besonders auf dem Land — mehr schlecht als recht, aber mit Ausnahme der wenigen, ausschließlich in Großstädten auf Sensationen spezialisierten Betriebe gibt es in Oesterreich kein Kino, das nicht gelegentlich auch wertvolle Filme spielte. Nicht immer ganz freiwillig, sondern nach dem System des Block- und Blindbuchens, das schlechte und gute Filme koppelt. Es gibt also wertvolle Filme (mindestens zehn Prozent des Gesamtangebots, also mehr als etwa in der Belletristik!), aber sie werden von gebildeten Menschen wenig besucht und fördern — wenn sie keine populären Stars zeigen — die unter „Filmhasen“ verbreitete Meinung, gute Filme seien ein schlechtes Geschäft.

Diese ablehnende oder zumindest passive Haltung der Bildungsschichte auch gegenüber dem wertvollen Film, beruht paradoxerweise auf ihrer Gegnerschaft gegen den schlechten Film. Der bekannte Filmkritiker Hans Winge, einer der Referenten auf der jüngsten Filmtagung der Aktion „Der gute Film“, drückte dieses Dilemma folgendermaßen aus:

„Daß der Film als Kunst immer noch eine Ausnahme bleibt, ist zum Teil die Schuld der Intellektuellen, die sich zwar durch die Schundproduktion im Verlagswesen nicht davon abkalten lassen, ein gutes Buch zu kaufen, aber den Film als Ganzes damit abtun, daß er Heimatschnulzen produziert.“

SO IST ES VOR ALLEM die jüngere, mit dem Film aufgewachsene Lehrerschaft, welche die auf einem Erlaß des Unterrichtsministeriums beruhende systematische Jugendfilmerziehung in den Ländern durchführt. Sie findet derzeit in 300 Hauptschulorten in sieben Bundesländern statt und setzt sich allmählich durch. Wir haben mit der Ablehnung des Films zu viel Zeit verloren, so daß wir jetzt die Kinder und gleichzeitig ihre Lehrer zum guten Film und zur Urteilsfähigkeit erziehen müssen. Man muß — wie dies am be:ten und systematischesten in Niederösterreich geschieht - die Filmerziehenurch die Praxis ausbilden. Es fehlen aber noch viele Hilfsmittel und große Teile der Theorie.

Einige Ereignisse des vergangenen Jahres, die zu den bekannten Empfehlungen des Ministerkomitees führten, haben nun die Filmerziehung vordringlich gemacht und überhaupt den Film in das Blicklicht der breiten Oeffentlichkeit gerückt. Die meisten Kinobesucher sehen im Film ein Unterhaltungsmittel und wollen nicht mit seiner Problematik belästigt werden. Nun aber hören sie immer wieder von einer Selbstkontrolle der Filmwirtschaft, von einem verschärften Jugendschutz, von Filmbewertung und anderen aktuellen Problemen, mit denen leider selbst viele Lehrer, Volksbildner und Kulturfunktionäre nicht vertraut sind.

Der Film und seine Problematik sind also eine aktuelle Angelegenheit des ganzen Volkes geworden, und so ergab sich für die Aktion „Der gute Film“ die Notwendigkeit — und dank seiner Subvention durch das Unterrichtsministerium auch die Möglichkeit — einer gründlichen Behandlung des ganzen Fragenkomplexes. Die Aktion „Der gute Film“ gab daher ihrer jüngsten Tagung im liebevoll geführten Volksbildungsheim St. Wolfgang (2. bis 6. Jänner X959) den programmatischen Titel „Film — eine volkspädagogische Aufgabe".

DEN BEIDEN HAUPTAUFGABEN DER AKTION — Unterstützung und Beratung der

Sie fanden sich zu jeweils zehn- bis zwölfstün- diger intensiver Tagesarbeit zusammen, um die dringlichsten Probleme zu erörtern. Da die Tagung gleichzeitig der Heranbildung neuer Mitarbeiter dienen sollte, mußten Theorie und Praxis einander ergänzen.

THEORIE, DIE AUS DER PRAXIS ERWUCHS, waren die Referate von deutschen und österreichischen Fachleuten zum Thema „Dialektik der Filmerziehung“. Wie man aus den schmeichelhaften und aufschlußreichen Worten des Münchner Hauptreferenten, Universitätsdozent Dr. Erich Wasem, erfuhr, wurde dieses Thema im deutschen Sprachraum erstmalig auf dieser Tagung wissenschaftlich behandelt. Dem richtigen Jugendschutz war die Arbeitsgemeinschaft über Probleme der Jugendbegutachtung gewidmet, die bemüht war, bestehende Schwächen und Divergenzen in den landesweisen Begutachtungen an den Tag zu bringen und damit zu ihrer Ausmerzung beizutragen. Die referierenden Mitglieder der Kommission des Unterrichtsministeriums und der Landeskommission von Wien, Niederösterreich und Oberösterreich gelangten in Beratung mit einem Angehörigen der deutschen Filmselbstkontrolle und mit Vertretern der weiteren Bundesländer zu dem Wunsch nach Schaffung einer einheitlichen Jugendbegutachtungskommission der bewußtsein und Liebe zu Jugend und Volk führten Großstädter, Dorflehrer, „Schwarze” und „Rote“ zu diesen und weiteren Empfehlungen sowie zu den von einer zweiten Arbeitsgemeinschaft ausgearbeiteten Prinzipien der Filmbewertung, die alle den zuständigen Abteilungen des Unterrichtsministeriums überreicht werden.

landesweise durchgeführten Jugendfilmerziehung und Verbesserung des Kinoprogramms durch Bereitstellung und regelmäßige Aufführung wertvoller Filme — entsprachen auch die Themengruppen, zu deren Behandlung 20 Referenten aus Wien, München, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und Steiermark auf- geboten waren. Die Verschiedenheit der örtlichen Herkunft führte in Verbindung mit den węltajisęhaulįęlĮpn,jjnd Aoe,ssionellęfl ,lfntęr- schieden zu einer Besonders glücklichen Mischung, die viel zum überaus großen Erfolg der Tagung beitrug.

Gut gemischt war auch der Kreis der 70 Teilr nehmerinnen unÖ Teilnehmer aus allen neun Bundesländern, meistens Lehrpersonen, aber auch Volksbildner, Jugendführer, politische und beamtete Gemeindefunktionäre, Bildungsreferenten des Bundesheeres und Kinounternehmer.

Bundesländer in Wien. In der ausführlichen Erörterung kamen wichtige, bisher wenig beachtete Gesichtspunkte zum Vorschein. Das Jugendverbot wird bei uns fast ausschließlich mit der befürchteten Gefährdung der männlichen Jugend begründet, während die weibliche Jugend von ganz anderen, bisher meist unberücksichtigten Erscheinungen gefährdet sei. In Anbetracht des Filmhungers der Jugend- lichęn,Jiieljt &s die Arbeitsgeipeinschaft f(ir verfehlt, sie durch zu rigorose Beurteilung zur Ge- ’ setzesübertretung durch Besuch jugendverbotener Filme zu treiben. Es empfehle sich also, insbesondere wertvolle Filme (etwa „Wir Wunderkinder“) auf ihre Jugendzulässigkeit mit Nachsicht zu prüfen. Dazu sei eine entsprechend hohe filmfachliche, psychologische und charakterliche Befähigung aller Kommissionsmitglieder erforderlich. Verantwortungs

VON DER FILMIDEE ZUR KINOKARTE. Die weiteren Themengruppen sowie die den Filmvorführungen folgenden Diskussionen waren der Schulung der Teilnehmer für die praktische Arbeit für den guten Film und der Hebung der Urteilsfähigkeit und des Geschmacksniveaus gewidmet. Bekannte Praktiker aus allen Sparten der Filmwirtschaft sprachen im Rahmen der Referatgruppe „Von der Filmidee zur Kinokarte“, um die zusätzlich anwesenden zwölf Mitarbeiter aus dem Salzkammergut besonders mit den filmwirtschaftlichen Problemen vertraut zu machen. Dabei konnte der in der Aktion „Der gute Film“ höchst aktive Finanzreferent von Deutsch-Wagram, Oberschulrat Hickmann, berichten, daß die Vorführungen wertvoller Filme seit ihrer Befreiung von der Lustbarkeitsabgabe zwei- bis dreimal sooft stattfinden. Der Steuerausfall für die Gemeinde, die in der Besatzungszeit schwerstens geschädigt worden sei, betrage zwar rund ein Prozent, aber er stehe in gar keinem Verhältnis zur positiven Wirkung! Dieser und viele weitere Beiträge von Praktikern der Filmarbeit aus allen Bundesländern erwiesen die Richtigkeit des auch vom Ministerkomitee propagierten Gedankens von der positiven Förderung wertvoller Filme in ideeller und materieller Hinsicht als einem wichtigen Mittel zur Zurückdrängung des Schundfilms.

Der durch die Praxis erarbeiteten theoretischen Schulung dienten die ebenfalls erstmalig versuchten Filmdiskussionen in kleinen, jedesmal anders zusammengesetzten Gruppen, deren jeweiliger Leiter den jeweiligen Film — so wie in der praktischen Arbeit in ihren Heimatgemeinden — gleichzeitig mit dem Publikum sahen. Um ihn einführen und diskutieren zu können, erhielten sie rechtzeitig eine schriftliche Diskussionsgrundlage. (Die Aktion hat nun rund 100 Diskussionsgrundlagen herausgegeben.) Auf diese Art gelang es nicht nur, 20 Teilnehmer praktisch zu erproben, sondern auch die übrigen Teilnehmer zum Mitreden zu bringen. Die erfahrenen Filmdiskussionsleiter . nahpiet (gfm,i üintergrund an den Diskussionen:! teil. Nach einer Stunde vereinigten sich die fünf Gruppen. Ihre Leiter berichteten über das jeweilige Ergebnis, und nun kam es zur Generaldebatte im Plenum, die die Ergebnisse ergänzte.

DIE VORGEFÜHRTEN FILME selbst waren mit einer Ausnahme nur den Referenten bekannt. Die erwähnte Ausnahme — der deutsche Experimental-Dokumentarfilm über Jugendprobleme mit dem provokanten Titel „Warum sind sie gegen uns?“ — war bei uns ganz unbekannt. Er war vom Auftraggeber (vom Münchner Institut für Film und Bild) mitgebracht worden, der nun auch die wirtschaftlichen, künstlerischen, technischen und personellen Umstände seiner Entstehung darlegen konnte.

Der über alle Erwartungen große Erfolg des Kurses wird am besten durch den ehrenvollen Liebertitel eines umfangreichen, liebevollen Berichtes in der „Arbeiter-Zeitung" (XI. Jänner 1959) „In seinem Lager war Oesterreich" dokumentiert. In diesem Artikel faßt der Filmkritiker Fritz Waiden (auch Referent der Tagung) seine Eindrücke vom Kurs zusammen:

„Man glaubt nicht, wie instruktiv, über seinen unmittelbaren Schulungszweck hinaus, ein solcher Kurs sein kann, der die verschiedenen österreichischen Bundesländer vereinigt. Man versteht plötzlich, daß es sinnlos ist, manche einem noch so plausibel scheinenden Lösungen mit Ungeduld und Dickschädelmentalität durchsetzen und dem anderen wieder aufdrängen zu wollen, während man, wie die persönliche Fühlungnahme beweist, einander ohnehin näher ist, als man denkt. .. Am runden Tisch erweisen sich alle Gegensätze alsbald mit gutem Willen leicht über- brückbar, lernt man erst ihre Wurzeln besser verstehen. “

Wenn der erwähnte Kritiker zum Schluß zum förderlichen Einvernehmen nicht nur beim gemeinsamen Aufbau des Landes, sondern auch in der gemeinsamen Aktion für den guten Film aufruft, drückt er damit die einmütige Meinung wohl aller Kursteilnehmer und Referenten aus, wie sie auch dem Unterzeichneten Kursleiter bekannt wurde.

Der Kurs ist seinem Programm gerecht geworden. Der Film ist als volkspädagogische Aufgabe anerkannt. Nun gilt es. diese Aufgabe nach besten Kräften auszuführen!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung