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Schweizer Hodisdiuldilemma

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Manche sprechen schon von Wachstumskrisen der Schweizer Hochschulen. Äußere Symptome dafür sind die überfüllten Hörsäle, ist der Platzmangel in Übungsräumen und Bibliotheken, ist die Wohnungsnot der Studenten, sind die Kontakt- •chwierigkeiten zwischen Studierenden und Dozenten. „Unsere Hochschule Ist ‘ am Ersticken”, schrieb Nationalrat Revefdin in einem Beitrag über die Lage in Genf. Ähnliche Alarmrufe kommen aus den meisten anderen Universitäten. Innerhalb der letzten, zehn Jahre hat sich die Zahl der Studierenden um 95 Prozent erhöht. Wenn die Entwicklung in der gleichen Linie weitergeht, werden bis 1970 46.000, bis 1975 53.000 Studierende die Schweizer Hochschulen besuchen. (Im Wintersemester 1964/65 waren es 30.441 Studierende).

Kann die Schwei ihre Aufgabe bewältigen?

Um die Größe der Wachstumsprobleme richtig zu ermessen, ist ein Wort über die Organisation unseres Hochschulwesens nötig. Mit Ausnahme der vom Bund finanzierten Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, sind die Hochschulen in der Schweiz kantonale Institutionen. Sie wurden von den Kantonen gegründet, sie werden zum größten Teil auch von den Kantonen getragen. Dies betrifft die Universitäten in Zürich, Bgrn, Basel, Neuenburg, Lausanne und Genf, die Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in St. Gallen. Für Freiburg ergibt sich insofern eine besondere Situation, als die jährlichen „Universitätsopfer der Schweizer Katholiken” im Budget wesentlich ins Gewicht fallen. Nun ist bereits jetzt die Grenze des Ausgabenplafonds an den meisten Orten erreicht. Die Aufwendungen für die Hochschule beanspruchten zum Beispiel zwischen 1958 und 1962 durchschnittlich im Kanton Basel-Stadt 12.4 Prozent der gesamten kantonalen Fiskaleinnahmen, im Kanton Genf 11,9 Prozent, im Kanton Waadt 11.5 Prozent (für die Universität Lausanne), im Kanton Zürich 9,9 Prozent. Das weitere Ansteigen der Kosten geht über die Leistungs fähigkeit auch der finanzstarken Kantone. Eine Übernahme bestimmter Teile der Ausgaben durch den Bund ist unvermeidbar geworden. Für die Subventionierung hat die vom Bund eingesetzte „Expertenkommission für Fragen der Hoch- schulförderung” ein System ausgearbeitet, wonach der Bund für die Bau- und Einrichtungsausgaben nach der „Finanzkraft” der Kantone abgestufte Beiträge zwischen 60 und 80 Prozent und für zusätzliche Betriebsausgaben — gemessen an den Mehraufwendungen für Dozenten und Mitarbeiter — Beiträge zwischen 50 und 80 Prozent übernehmen würde, so daß schließlich bis 1975 etwa die Hälfte der Gesamtausgaben der kantonalen Hochschulen durch den Bund getragen würde.

Dazu kommt die wohl unvermeidliche Erscheinung, daß die Prognosen über die Entwicklung der Studentenzahlen an einzelnen Hochschulen schon von der Wirklichkeit übertrof- fert sind. Entsprechend müssen auch die Hypothesen über die erforderliche Zunahme von Dozenten und Mitarbeitern und über Erweiterungsbauten nach oben revidiert werden. Das alles wird eine Steigerung der Ausgaben zur Folge haben, die weit über die 70 Millionen, die nach den Berechnungen der Expertenkommission bis 1975 dem Kanton Bern verbleiben würden, hinausgeht. Dabei ist anzumerken, daß der Kanton den Standpunkt vertritt, 40 Millionen stelle das Maximum dessen dar, was ihm zugemutet werden dürfe.

äußeren Faktoren. Wahrscheinlich wählt nur ein kleiner Teil der Studenten die Fächer auf Grund von Neigung und Begabung, die meisten lassen sich von ändern Überlegungen — Aufstiegsmöglichkeiten, materielle Chancen, allgemeine Nachfrage •— leiten.

Es müßte nun weiter differenziert werden. Die unterschiedliche geographische und soziale Herkunft der Studenten wäre in die Betrachtung einzubeziehen. Die Diskussion um das „katholische Bildungsdeflzit” und um die schlechte Vertretung der Studierenden aus Arbeiterkreisen hat bedenkenswerte Fakten zutage gefördert. In der demokratischen Schweiz stellten bisher weite Landstriche und ganze Bevölkerungs- chichten nur einen geringen Prozentsatz des akademischen Nach wuchses. Die Dezentralisierung der Mittelschulen, der Ausbau des Sti- pendienwesens, der sogenannte „zweite Bildungsweg”, die allgemeine Hebung des Wohlstandes, die akademische Berufsberatung werden hier wahrscheinlich einen gewissen Ausgleich bringen. So notwendig die Ausschöpfung der Begabtenreserven ist, die Konzeption einer Hochschulpolitik wird in einem derart dynamischen. schillernden und vielschichtigen Entwicklungsprozeß immer schwieriger. Wohl am deutlichsten stellen sich die Probleme bei den Abklärungsarbeiten für die Errichtung einer neuen Hochschule, die gegenwärtig in den Kantonen Luzern und Aargau im Gang sind. Sinnvoll wäre eine neue Universität nur dann, wenn diese einen Kristallisationspunkt darstellte, durch den wenigstens ein Teil der dringendsten Bedürfnisse befriedigt würde. Wie ist aber ein solcher Punkt zu finden, beim Fehlen einer allgemeinen klaren politischen Linie auf nationaler Ebene?

Staatspolitische Probleme

Die Probleme gehen aber weit über den engeren Bereich der Hochschule hinaus. Sie greifen über auf die staatspolitischen Gegebenheiten unseres Hochschulwesens. Bei den vorgesehenen Umwälzungen der finanziellen Basis — von den Kantonen auf den Bund — ist es wohl unvermeidbar, daß der Bund nicht bloß als Spender in Erscheinung tritt. Die von der „Expertenkommission für Fragen der Hochschulförde- rung” ausgearbeiteten „Grundsätze der Subventionierung” stellen zwar die Wahrung der kantonalen Schul- hoheit und der Autonomie der kantonalen Hochschulen an die Spitze. Im sechsten Grundsatz heißt es dann aber: „Der Gesichtspunkt der Koordination ist, in der Weise zu berücksichtigen, daß Bauten und Einrichtungen, die unter diesem Gesichtspunkt offensichtlich unzweckmäßig sind, von der Subventionierung aus- züschließen sind.” Damit bleibt immerhin dem Ermessen der Bundesinstanzen reichlicher Spielraum überlassen. Es wird wesentlich von der Handhabung dieses Vetorechts abhängen, wie weit die Autonomie der Hochschulen bestehen bleibt. Die Konferenz der Hochschulrektoren hat denn auch in einer Erklärung den Wunsch ausgedrückt, daß an diesem wichtigen Wendepunkt die Universitätsautonomie nach Möglichkeit gewahrt bleibe. Es wäre allerdings einmal genau abzuklären, welchen Inhalt bei den heutigen Bedürfnissen die berühmte kantonale Schulhoheit und die Hochschulautonomie haben können. Nicht alles, was unter dieser Flagge segelt, ist im Interesse der Nachwuchsförderung, der Bildungsökonomie, der Freizügigkeit zwischen den Hochschulen auch zweckmäßig. Gewiß sind unsere Hochschulen, wie sie aus den Gegebenheiten des schweizerischen Föderalismus gewachsen sind, getragen von der Lebenskraft und von der Opferfreudigkeit der Bevölkerung, positiv zu bewerten. Der gegenwärtige Zustand erspart uns die Nachteile einer zentralistischen Bürokratie. Zudem schafft die Vielzahl von Universitäten auf kleinem Raum eine anregende Wettbewerbslage. (Die Schweiz hat in bezug auf die geographische Lage und in bezug auf die Bevölkerung das weitaus dichteste Universitätennetz Europas.) Aber die Entwicklung hat zu neuen Problemen und Situationen geführt, die der Kanton weder einzeln noch im Verein mit ändern Kantonen ohne den Bund zu meistern vermag.

Auf dem Weg zu einer neuen föderalistischen Ordnung?

Der kleinräumige helvetische Föderalismus, der die Kantonsgrenzen mit chinesischen Mauern verwechselt, ist überholt. Bund und Kantone müssen zu einer engeren Gemeinschaft finden. In seiner Rede vom Jahre 1963 über die „Eidgenössische Kulturpolitik vor neuen Aufgaben” hat Bundespräsident Dr. Hanspeter Tschudi dem Bund „eine erhebliche Mitverantwortung in den Erzie- hungs- und Bildungsaufgaben” zuerkannt. Wir verdanken dieser Mitverantwortung des Bundes die grundlegenden Arbeiten der „Expertenkommission für Fragen der Hoch- schulförderung” und die Untersuchungen von zwei weiteren Kommissionen über die akademische Nachwuchssituation. Eigentlich hätten ja diese Abklärungen zum Aufgabenbereich der Kantone gehört. Die Bundesbehörden ergriffen indessen die Initiative und schufen damit die Voraussetzungen für eine schweizerische Hochschulpolitik. Durch den Bund wurde der Wissenschaftsrat eingesetzt, dessen Aufgabe darin besteht, „einen Gesamtüberblick über die vom Bund, von den Kantonen und von der Privatwirtschaft auf dem Gebiete der Wissenschaft und Forschung getroffenen Maßnahmen zu gewinnen, die gebotenen Koordi- nationsvorschläge auszuarbeiten, zu den Anträgen auf Maßnahmen des Bundes begutachtend Stellung zu nehmen und selber Vorschläge für notwendig erscheinende Vorkehrungen zu unterbreiten”. Im weiteren setzte der Bund den nationalen Forschungsrat ein, der die Forderung nach einer schweizerischen Forschungspolitik erfüllen dürfte. Solche Leistungen können nicht im Zeichen zentralistischer Tendenzen gesehen werden, sondern im Zeichen einer notwendigen Konzentration der Kräfte.

Nur durch eine verstärkte Konzentration aller Kräfte kann die Schweiz den gegenwärtigen und den wachsenden künftigen Aufgaben gerecht werden. Nur so läßt sich die prekäre Nachwuchssituation verbessern. Nur so wird es möglich sein, die dringend notwendigen Studienreformen durchzuführen.

Bei allen diesen zukünftigen gemeinsamen Anstrengungen sollte es auch möglich sein, die eingangs erwähnten finanziellen Schwierigkeiten zu überwinden. Auf gesamtschweizerischer Ebene verlieren nämlich die Aufwendungen viel von ihrem Schrecken. In Berücksichtigung der Wachstumsrate unserer Wirtschaft werden sich die totalen Hochschulausgaben im Jahre 1975 auf 1,6 bis 1,7 Prozent des Sozial- ęinkommens belaufen. Dieser Anteil ist tragbar und liegt auch im Rahmen der entsprechenden Aufwendungen im Ausland. Der Haken liegt demnach nicht in der Höhe der Summen, sondern in der ungleichen Lastenverteilung. Da die Bundessubventionen offenbar die Ungleichheiten nicht überbrücken können, wäre vielleicht ein kombiniertes Finanzierungssystem zu finden, eine Kombination zwischen Bundessubventionen einerseits und direkten Leistungen der Nichthochschulkantone anderseits.

Alle Anstrengungen sind auf die Verwirklichung der „Hochschule Schweiz” auszurichten. Eine Einheit der Universität im Sinne der mittelalterlichen „universitas magistrorum et scholarium” oder im Sinne der Universįtaįeidee Humboldts gibt es nicht mehr, weil die Einheit des religiösen und philosophischen Horizontes nicht mehr gegeben ist. Wir müssen eine Einheit finden, die unserer pluralistischen Gesellschaft gerecht wird, die über konfessionelle, parteipolitische, regionale und kantonale Interessen hinausgeht, und die diese Interessen doch bindet, nicht zum monotonen Schema, sondern zu einem vielseitigen Spiel der Kräfte innerhalb einer gemeinsam erarbeiteten Ordnung. Die Hochschule Schweiz wird wohl zu einem Prüfstein des eidgenössischen Föderalismus werden. Hier kann sich zeigen, ob der Föderalismus die Kraft zu einer toleranten und gerechten Gemeinschaft hat.

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