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Sechs Möglichkeiten

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Das Problem zwischen 'gleichförmiger allgemeiner Ausbildung und spezieller werdender Fachrichtung scheint im neuen Lehrplanentwurf günstig gelöst zu sein, auch was den Zeitpunkt des Wechsels betrifft. Nach den vier Jahren der Unterstufe, in denen der Übergang von einer Schultype zur anderen noch leicht möglich ist, setzen die fünf Jahre der Oberstufe ein, die den bestimmten Begabungsschwerpunkten gerecht werden, ohne bereits Fachausbildung im eigentlichen Sinne zu zu sein. Dafür sorgen drei gymnasiale Typen: 1. das humanistische Gymnasium (lebende Fremdsprache, Latein, Griechisch);

J. das neusprachliche Gymnasium (zwei lebende Fremdsprachen und Latein);

I. das realistische Gymnasium (eine Fremdsprache, Latein, Darstellende Geometrie), und drei realgymnasiale Typen:

1. das naturwissenschaftliche Realgymnasium (durchgehende Fremdsprache, Latein nur in der Oberstufe);

2. das mathematische Realgymnasium (zweite lebende Fremdsprache in der Oberstufe);

>. das wirtschaftskundliche Realgymnasium für Mädchen (zweite Fremdsprache oder Latein in der Oberstufe).

Als weitere Bildungsmöglichkeiten wären noch die fünf Sonderformen (musisch-pädagogisches Gymnasium, je zwei Typen Aufbauschulen und Schulen für Berufstätige) zu erwähnen, die aber im vorliegenden Entwurf noch nicht enthalten sind.

Nicht quantitativ, sondern qualitativ!

Der Umbau der heute bestehenden Mittelschulen zu diesen Typen der allgemeinbildenden höheren Schule wird organisch erfolgen, ohne Abbruch des Bisherigen, nur in aufbauender Erweiterung.

Die künftige Pädagogik muß freilich den Mut zur Entscheidung haben, was wirklich bildend ist. So vieles von dem, was „man wissen muß“, unterliegt der Mode wie andere Dinge auch. Für die Praxis heißt das:

Beispiele mögen diesen Grundsatz zählen kann, die historischen Zusammenhänge aber nicht durchschaut. Von dieser Sicht her ist es überhaupt nicht bedauerlich, daß sich der Strom des Allgemeinwissens nicht mehr in ein Gehirn sammeln läßt. Nicht die einzelnen Tropfen dieses Stromes zu kennen, wird zu unserer Orientierung nötig sein, sondern das allgemeine Gesetz, dem er folgt.

Schließlich gelangen wir zu einer Erkenntnis des Begriffs „Allgemeinbildung“ überhaupt nicht, wenn wir von dem ausgehen, was wir so echt materialistisch den „Schulstoff“ nennen. Wir müssen vielmehr vom Menschen ausgehen, nicht vom Wissensmaterial. Allgemein gebildet ist jener Mensch, der alle seine Anlagen und vorhandenen Fähigkeiten (Talente) so weit ausgebildet hat, daß er sich seiner Persönlichkeit bewußt und sicher geworden ist. Wenn einmal ein Mensch sieht, worin seine Begabungsstärke liegt, auf welchen Gebieten er etwas leisten kann und auf welchen er weniger begabt ist, dann ist er reif und gebildet und hat das „Gnothi seauton“ (Erkenne dich selbst) praktiziert. Er wird sich nicht mehr überschätzen wie jeder Einfaltspinsel und wird auch keinen Grund zu Minderwertigkeitskomplexen finden, sondern in Entschiedenheit jene Aufgaben suchen, die ihm zustehen, jenes Werk tun, zu dem er und nur er — auf Grund der Anlagen vom Schöpfer her — bestimmt ist.

Die Schule, die sich allgemeinbildend nennen will, hat jene Möglichkeiten zur Selbstfindung zu bieten und alle Talente und Begabungen anzusprechen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn Eignungen und Neigungen offenbar geworden sind, wird sie sich behutsam einer spezialisierten Ausbildung zuwenden. Dabei werden die individuellen Begabungen im Jahre 2000 n. Chr. kaum anders gelagert sein denn im Jahre 1500 n. Chr., als der Begriff der Allgemeinbildung Triumphe feierte.

artetmal bnu wtörMnulbnufl teb I erläutern! Wer alles, was Jemals bedeutende Menschen an bedeutenden Gedanken gedacht und geschrieben haben, lesen und darüber nachdenken möchte, müßte heute schon ein Studium von 120 Jahren veranschlagen. Freilich geht es auch, in fünf Jahren die Namen der Denker und Dichter kennenzulernen und zu jedem Namen In einigen Schlacwnrten Gedanken-

Splitter aufzulesen. Ein solcher Mensch wird dann einem Topf gleichen, der randvoll mit Wissen gefüllt ist; er besitzt bestenfalls eine Halbbildung, die ür die Lösung unserer Kreuzworträtsel in den Zeitungen, aber nicht für lie Lösung jener Rätsel geeignet ist, lie ihm ganz persönlich das Leben itellen wird. Seelisch reicher und gebildeter wird er sicher dann sein, wenn ir nur eines der vielen namentlich bekannten Werke gründlich gelesen und n allen Tiefenschichten der Aussage /erstanden hat, wenn er einmal nur :inen großen Gedanken eines großen Menschen nachdenkend erlebt und sich am fremden Geist entzündet hat.

Dies gilt in ähnlicher Weise, vieleicht noch stärker, für Geschichte. Auch hier kann an Quantität der perfekten Chronologie leicht verzichten, iver in einer Art Vertiefung in einzelne, ausgewählte geschichtliche Problema-:iken die Qualität des historischen Verständnisses gewonnen hat. Mit ;inem Wort: die heutige Fülle der Realien ist sowieso nicht mehr zu bewältigen; die Welt ist größer und reifer geworden, als in eines Menschen [Jim paßt: daher Auswahl und ver-:ieftes Verständnis einzelner „Stück-:hen“ dieser Realitäten. Dies ist insofern kein Verlust, weil durch die Welt der Natur wie durch die Welt des Geistes der Atem des einzigen weht, Jessen Gesetz ein einfaches ist und in der Physik wie in der Ethik die Induktion vom Teil aufs Ganze erlaubt.

Maler und Musiker

Das soeben Gesagte kann nun allerdings nicht mehr als Interpretation des Lehrplanentwurfs gelten. Nur Ansätze :u solchem Denken sind in ihm enthalten, da er sichtlich den Bildungs-iveg da und dort auf das „Exemplarische“ konzentriert. Im übrigen aber ist er ein Ausgleich, ein Kompro-niß zwischen extensiver und intensiver Bildung. Wohl «n i nfltwenoigertbiAbeKensdiemt dem Schreiber dieser Zeilen nicht überall kortsequenWurchgeJHta'Sail'sefflW

So besteht der Lehrplänentwurf bei-ipielsweise sowohl auf einer musikali-ichen wie auch auf einer bildnerischen Erziehung für jeden Schüler aller Typen bis zur siebenten Klasse, läßt aber dann diese wertvolle Ausbildung des Musischen im Menschen für die letzten zwei Jahre vollständig fallen. Wem drängt sich da nicht die Frage jnf. ob die hisherioe Form der Wahlmöglichkeit zwischen „Musik“ und „Kunst“ mit konsequenter Führung bis zum Schluß nicht der Begabungsförderung besser entsprochen hat? Darüber ließe sich viel diskutieren. Offensichtlich legt der Lehrplangestalter doch auch auf eine gewisse extensive Ausbildung Wert, die da sagt, daß auch der sogenannte „Unmusikalische“ einige Kenntnisse aus der Welt der Oper und auch der „Kunstbanause“ das Wissen von den Stilmerkmalen haben und ebenso Fertigkeiten bescheidener Art auf allen Gebieten besitzen soll.

Warum noch immer 34 Stunden?

Es wurde in den Zeitungsmeldungen immer als eine große Errungenschaft gewertet, daß die Stundenzahl pro Wo c h e in keiner Klasse über das Ausmaß von 34 Schulstunden hinausgeht. Auch die bisherigen Stundentafeln der Mittelschulen (mit Ausnähme der Frauenoberschule) wiesen nicht mehr als 34 Wochenstunden auf. Im allgemeinen wurde in der Öffentlichkeit erwartet, daß diese Wochenstundenzahl mit dem gewonnenen neunten Schuljahr leicht auf 30 absinken werde. Noch haben die Zeitungen als öffentliche Sprachorgane die Enttäuschung darüber nicht registriert. Sie ist aber vorhanden, sowohl bei den Eltern wie bei den Lehrern.

Bei den Schulen auf dem Lande spricht vor allem ein praktisches Argument stark dafür, daß in der Regel nach fünf Schulstunden die Schüler entlassen werden sollen. Schülerautobusse und Züge sind darauf eingestellt, die Schüler am frühen Nachmittag in den Heimatort zu bringen. Natürlich lassen sich die Fahrpläne ändern; es lassen sich Ausspeisungsmöglichkeiten und Aufenthaltsräume schaffen, damit der Schüler auch an den Nachmittagen im Schulbereich bleiben kann. Es gäbe sogar noch die Möglichkeit, die Unterrichtseinheiten auf 40 Minuten zu beschränken (englisches Beispiel) und dann noch sechs Unterrichtseinheiten an einem Halbtag unterzubringen. (Die Engländer teilen aber ihre Stunden auf Vormittag und Nachmittag auf.)

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