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„Selbst mit 85 kann ich noch eine andere werden"

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Wer von uns hat keine Angst vor dem Alterwerden? Es drohen Einsamkeit, körperliche Gebrechen, Verständnislosigkeit seitens der Jungen... Das Alter bietet aber auch Chancen: Neuorientierung und Einwilligung in die verbleibende Zeit.

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Wer von uns hat keine Angst vor dem Alterwerden? Es drohen Einsamkeit, körperliche Gebrechen, Verständnislosigkeit seitens der Jungen... Das Alter bietet aber auch Chancen: Neuorientierung und Einwilligung in die verbleibende Zeit.

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Wenn man über künftige Generationskonflikte nachdenkt und über zu erwartenden Streit spekuliert, darf man nicht nur von den Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung ausgehen. Man muß vielmehr auch die zu erwartende Arbeitsproduktivität berücksichtigen. Konflikte sind immer durch die ökonomischen und kulturellen Vorgaben bedingt. Steuernde Eingriffe sind planbar. Es ist daher wichtig, abwägend vorauszudenken, in alternativen Szenarien. Diese können als Entscheidungshilfen dienen oder zumindest für Appelle zur Änderung herangezogen werden.

1. Individuelle Selbstdurchsetzung — soziale Unverbindlichkeit

Man muß sich das aktuelle soziale und kulturelle Werte-Klima vergegenwärtigen, aus dem heraus sich Zukunft entwickelt. Stichworte hiezu sind: die Suche nach Selbstverwirklichung (seit den sechziger Jahren) hat sich im letzten Jahrzehnt zu einem Trend zur Ellbogengesellschaft, der brutalen Selbstdurchsetzung am Markt verstärkt. Unverbindlichkeit ist dabei Überlebensstrategie in der Bisikogesellschaft geworden. Manche Befunde deuten allerdings daraufhin; daß der Verlust von Solidarität nicht ganz so generell ist, wie er zu sein scheint. Aber Gesichertheit wird jedenfalls Mangelware. Sinkende Geburtenraten und steigende Lebenserwartung erzeugen Gleichzeitigkeit mehrerer nicht im gleichen Haushalt lebender und kulturell stark voneinander divergierender Generationen. Eine Mehrheit von Menschen lebt wenigstens phasenweise als Singles. Das Allemleben wird gesellschaftlich voll anerkannt. Die Anpassung an den Arbeitsmarkt bei beiden Geschlechtern erzeugt individualisierte Biographien und eine Tendenz zur „Familie ä la carte".

Das Becht auf Partikularität wird von allen Beteiligten in der Familie beansprucht. Verbindlichkeit muß sich auf Sinn berufen können. „Sinn" erfordert Kraft, etwas auf Dauer zu verfolgen, und diese Kraft wird gesellschaftlich unterspült. Es ist schwer geworden, die moderne Komplexität zu einer Einheit der Lebensdeutung zu integrieren.

In einer solchen Situation gälte es, eine gezielte Selbstsorge zu entwickeln und gemeinschaftlich und gesellschaftlich erweitern zu helfen. Von der Selbstsorge her wäre auch die Selbstkritik (samt Ansätzen zur Selbstbeschränkung) und Kooperation zu entwickeln. Ähnlich wie in den USA sind in Deutschland, ausgehend von Baden-Württemberg, Seniorengenossenschaften, Bürgerbüros und Gemeinschaftsinitiativen entstanden, welche sich um eine höhere Beteiligung möglichst vieler älterer Menschen an der Produktion und Verteilung von Wohlfahrt in der Gesellschaft bemühen und das Bollen-Verständnis des älteren Menschen in der Gemeinde verändern.

Auf fast allen Gebieten körperlicher Leistung und Selbstdarstellung setzen weiterhin Modelle, die von Jugendlichkeit abgeleitet sind, den Maßstab. Jugendlichkeit wird in der Kosumgesellschaft als ein besonders erstrebenswertes Ziel vorgestellt. Jugendlichkeit in Aussehen und Verhalten kann der alternde Mensch nur bedingt anbieten.

Altwerden wird zukünftig nicht mit bestimmten verläßlich-festen Wertschienen und Selbstverständlichkeiten verbunden sein, wie dies noch in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts der Fall war. Wer leidend oder behindert ist, vom eigenen Körper in Ungewißheit versetzt wird, braucht als Stützung gewisse Verläßlichkeiten. Wer und was werden sie ihm bieten?

2. Pluralität im individuellen Lebenslauf

Im späten Leben zeigen sich heute Chancen der Bealisierung von mehreren voneinander verschiedenen Selbstbildern. Eine Vielfalt von Entwicklungschancen entsteht aus der Einsicht in die „Pluralität im Ich", wie sie schon Bobert Musil im „Mann ohne Eigenschaften" entwarf.

Aufgrund gesellschaftlicher Tendenzen von Individualisierung und Singularisierung steigen die Chancen des Menschen, innerhalb seines Lebenslaufs verschiedenen Selbstbildern Chancen glaubwürdiger Ausprägung zu geben.

So kann man akzeptieren, daß es in den Bereich des Erlebbaren kommt, daß ich mit 50 ein anderer bin als ich mit 30 war oder mit 70 noch einmal ein anderer sein werde als mit 50, und mit 85 mich wieder gewandelt haben werde, aufgrund neuer, im eigenen Leben zur Entwicklung gebrachter Elemente. Menschen werden so auch zunehmend einsehen können, daß sie gegenüber früheren Interessen neue zu verfolgen imstande sind.

Alte Menschen vermitteln eher als junge Merkzeichen für die Erduldung und für die Versöhnung von Widersprüchen im Dasein. Ungelöstes in den gesellschaftlichen Übergängen hinzunehmen, Chaotisches in Kirche und Politik zu ertragen, zu kritisieren und deuten, sind das Merkmal einer höheren „integrativen" Vernunft. Die Aufwertung einer solchen „integrativen Vernunft" kann man als Begünstigung des künftigen Altenstatus sehen.

Unsere Gesellschaft bedarf, je mehr sie entdeckt, daß rationale Ein-linigkeit und Eindeutigkeit in den komplexen Fragen unserer hochentwickelten Welt für Problemlösungen nicht mehr zureichen, integrativer Fähigkeiten. Alte Menschen können unter bestimmten Bedingungen eine solche Integration eher zustande bringen als junge, weil sie die Vorläufigkeit alles Daseins einsehen und zu bezeugen vermögen.

Das Ideal der Beinerhaltung von Wasser und Luft und der Schutz der Natur und der Landschaft werden vorderhand im politischen Kampf leichter akzeptiert als die Anerkennung geschaffener Werte durch frühere Generationen, oder gar die Hilfe für schwierige, „pflegeaufwendige" alte Menschen. Aber der Vorstellungskreis des Schützens und Bewahrens wurde durch die ökologische Bewegung in das gesamte politische System eingebracht.

Trotz Fremdenhaß und Fremdenangst treten Momente in der gesellschaftlichen Entwicklung auf, die auf das Ernstnehmen des Schutzbedürfnisses hinzielen. Das wird auch den Alten zugute kommen.

3. Erneuerungsfähig-keit als Tugend der neuen Alten

Technologie und Wirtschaft bedürfen der Innovation und werden ihrerseits durch diese vorangetrieben. Auch der Mensch bedarf der Erneuerung. Aber sie muß anderer Art sein.

Sich von der Sucht nach immer Neuem abzulösen, vermag nur, wer die Endlichkeit bejaht. Das abschiedliche Dasein ist imstande, späte Freiheit zu gewinnen. Je mehr im Einzelleben das Alter voranschreitet und damit die Wahrscheinlichkeit des Todes zunimmt, desto tiefer könnte das Verständnis der Abschiedlichkeit werden. Diese Abschiedlichkeit meint nicht Pessimismus oder Bückorientierung auf das gelebte Leben, sie weist hin auf die Nutzung der verbleibenden Zeit. Das bedeutet aber Veränderung im Leben des einzelnen.

„Wenn jemand nicht neu geboren wird, kann er nicht eingehen in das Beich Gottes" (Joh 3,3). Der alte Nikodemus, an den Jesus dieses Wort richtete, antwortet, daß er doch ein alter Mann sei. Wie solle er „in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und neu geboren werden?" Der alte Nikodemus hat seinen Glauben noch nicht gefunden. Er vermochte sich nicht auf Erneuerung einzulassen. Neugeburt verlangt ein „Sterben", einen Abschied vom Gelebten. Einwilligung in die eigene Endlichkeit ist eine notwendige Bedingung für Freiheit, für Neugeburt.

Für die Alten der Zukunft werden solche Orientierungen der Einwilligung in ihre Endlichkeit und der „Neugeburt" entstehen müssen. So vermögen sie gegen die bloße Anpassung an die jeweiligen gesellschaftlichen Moden ihre Lebensweisheit zu entwickeln und „Glauben", damit auch Vertrauen, Widerständigkeit und Bisikobereitschaft zu gewinnen und Abschiedsfähigkeit zu entwickeln. So können sie auch einen eigenen Weg der Selbstabklärung, der Festigung und des Mutes für die Zukunft im späten Leben gehen. Statt mehr und mehr Objekte des Marktes, des Konsums und bloßer „Betreuung" zu werden, können die Alten Subjekte gesellschaftlicher Entwicklung und von eigenem wie auch bürgerschaftlichem Handeln werden.

Der Autor ist

Professor für Soziologie an der Universität Wien und Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Sozialgerontologie und Lebenslaufforschung.

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