Sex, Angst und viele Missverständnisse

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Eine Plakataktion an Wiener Schulen hat die Debatte um Sexualpädagogik erneut angeheizt. Nun war sie Thema einer bioethischen Tagung.

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Eine Plakataktion an Wiener Schulen hat die Debatte um Sexualpädagogik erneut angeheizt. Nun war sie Thema einer bioethischen Tagung.

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Zuletzt war es ruhiger geworden. Doch seit 6. Oktober gehen wieder die Wogen hoch. Sandra Frauenberger, Wiener SP-Stadträtin für Frauen und Antidiskriminierung, hat an diesem Tag gemeinsam mit dem Verein "Ausgesprochen: schwule, lesbische, bi & trans* Lehrer_Innen in Österreich" eine Plakat-Aktion präsentiert, die an allen 700 Wiener Schulen "Vielfalt sichtbar" machen soll: "Felix+Jonas 4ever" ist auf einem der Sujets zu lesen, auf einem anderen "Frau Lehrerin hat eine Frau".

Die Proteste ließen nicht lange auf sich warten. Von einer "gezielten Provokation" sprach der Katholische Familienverband der Erzdiözese Wien. Man habe im Vorfeld keine Elternverbände informiert und damit die Kooperation mit den Erziehungsberechtigten, die im neuen "Grundsatzerlass Sexualpädagogik" festgeschrieben sei, "gröblich missachtet". Noch heftiger fiel die Kritik der konservativen "Initiative für eine wertvolle Sexualerziehung" aus: Durch diese "Propaganda der Genderlobby" sollten die Kinder "unter dem Deckmantel der Toleranz bezüglich ihrer geschlechtlichen Orientierung verunsichert werden."

Kulturkampfstimmung

Im Büro von Stadträtin Frauenberger versucht man zu beruhigen: Die Plakate würden den Schulen "nicht aufgezwungen" und seien außerdem "primär für Lehrerinnen und Lehrer gedacht", heißt es auf Anfrage der FURCHE. Sie könnten also auch im Konferenzzimmer aufgehängt werden. Wie die Eltern eingebunden werden, müssten die einzelnen Schulen klären. Man habe dies den besorgten Elternvereinen bereits mitgeteilt -"in der Hoffnung, dass damit Missverständnisse beseitigt wurden, aber auch in der Hoffnung, dass das Thema Vielfalt weiterhin an den Schulen diskutiert wird."

Die Wiener Plakat-Aktion ist nur das jüngste Beispiel dafür, wie rasch sich beim Thema Sexualpädagogik Kulturkampfstimmung breit macht -und wie schnell es (bewusst oder unbewusst) zu Fehlinterpretationen kommt. Sie weitgehend auszuräumen, hat vergangenes Wochenende die "Association of Bioethicists in Central Europe"(BCE) auf ihrer Jahrestagung in Wien versucht. Auf Einladung von Obfrau Sigrid Müller, Professorin für Theologische Ethik (Moraltheologie) an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien, diskutierten Theologen, Pädagoginnen und Ärzte über "Ethische Aspekte der Sexualpädagogik im Kindesalter". Einer, der für mehr Klarheit sorgen sollte, war Olaf Kapella von Österreichischen Institut für Familienforschung. Der Sexualpädagoge hat nicht nur am umstrittenen Grundsatzerlass des Bildungsministeriums mitgearbeitet; er hat im Auftrag der WHO auch die zugrundeliegenden "Standards für die Sexualaufklärung in Europa" mitformuliert, die konservative Gruppen in Deutschland seit Monaten auf die Straße treiben. Durch die WHO-Standards komme es zur "Frühsexualisierung", Kleinkinder würden etwa zum Masturbieren angeregt, so die Kritik. Stimmt das? "Mein Gott, nein!", entgegnet Kapella. Die Formulierung "Vergnügen und Lust, den eigenen Körper zu berühren, frühkindliche Masturbation", die sich in der WHO-Matrix bei den Null-bis Vierjährigen finde, sei völlig anders zu verstehen. "Es geht hier darum, wie man mit Kindern umgehen soll, die sich im Kindergarten selbst befriedigen - was oft vorkommt. Viele Pädagogen und Eltern sind da hilflos. Deshalb muss man das thematisieren." Dass Kinder ihren Körper wahrnehmen und korrekt benennen lernen, entspreche dem "ganzheitlichen und positiven Ansatz" der Sexualpädagogik in Europa -und erschwere auch sexuellen Missbrauch. Die Angst, dass Sexualpädagogik zu frühzeitiger sexueller Aktivität führe, sei jedenfalls unbegründet, betont auch der Wiener Moraltheologe Gunter Prüller-Jagenteufel: Studien in den USA und Asien hätten gezeigt, dass der erste Geschlechtsverkehr später erfolge und Jugendschwangerschaften zurückgingen -"Dinge, die wir uns als Kirche ja wünschen". Auch die Behauptung, dass Kinder in ihrer sexuellen Orientierung verunsichert werden könnten, wird vom Münchner Moraltheologen und -psychologen Jochen Sautermeister zurückgewiesen: Bereits im zweiten Lebensjahr sei die subjektive Geschlechtsidentität weitgehend festgelegt. "Und dass Homosexualität durch eine bestimmte Erziehung oder durch Verführung entsteht, ist ein Mythos."

Wie umgehen mit "Vielfalt"?

Doch was ist mit den Werten? Bedroht die Vielfalt an Lebensformen Ehe und Familie? "Man sollte lernen, dass Vielfalt per se noch nichts gefährliches ist, sondern die Herausforderung darstellt, wie wir damit menschlich umgehen, ohne jemanden zu diskriminieren", betont der Wiener Moraltheologe Gerhard Marschütz, der auch für die Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit Genderfragen plädiert (vgl. FURCHE Nr. 39). Angesichts dieses Wertepluralismus braucht es freilich "Wertebildung", ist Andrea Lehner-Hartmann, neue Professorin für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien, überzeugt. Man müsse Kinder und Jugendliche dabei begleiten -und im Zuge der "Sexualpädagogik" auch Themen wie Beziehungen, Grenzen, Scham und Geschlechtergerechtigkeit zur Sprache bringen. Das könnten weder die Eltern noch die Lehrkräfte alleine, deshalb brauche es eine "komplementäre" Zusammenarbeit und eine bessere Qualifikation für Pädagoginnen und Pädagogen.

Olaf Kapella kann das nur unterstreichen. Kinder und Jugendliche hätten schließlich ein Recht auf Information. Die Plakataktion von Stadträtin Frauenberger hält er folglich für "legitim" - auch wenn es angesichts der aufgeheizten Stimmung diplomatischer gewesen wäre, die Eltern vorab zu informieren. Um Erlaubnis hätte man sie aber nicht fragen müssen. "Sexualpädagogik ist Teil des Unterrichts. Das müssen die Eltern akzeptieren." Und die Kritik, dass es an Wiener Schulen zu "Propaganda von Genderlobbys" komme? "Man muss schauen, dass es nicht zu einseitig wird", meint Kapella. "Aber es ist ein Faktum, dass homosexuelle Lehrkräfte diskriminiert wird. Bei einer heterosexuellen Familie mit zwei Kindern ist das nicht so." Der Katholische Familienverband könnte das vermutlich etwas anders sehen. Aber das ist eine eigene Geschichte.

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