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Sind die alle schwer gestört?

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Ein Sofortrezept gegen Verhaltensstörungen gibt es nicht. Franz Sedlak, Leiter der Schulpsychologie-Bildungsberatung kennt Tips zur Bewältigung.

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Ein Sofortrezept gegen Verhaltensstörungen gibt es nicht. Franz Sedlak, Leiter der Schulpsychologie-Bildungsberatung kennt Tips zur Bewältigung.

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Der 16jänrige AHS-Schüler Jürgen B. will sich laut eigener Aussage einfach nicht diesem System unterwerfen und anpassen: „Ich will nicht dort sein, wo ihr mich haben wollt.” Und Karola, eine 17jährige Schülerin einer Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik, beklagt sich, daß sie von ihren Lehrern als „kontaktgestört” bezeichnet wird, weil sie gern allein ist, sich nicht für Themen der meisten ihrer Mitschülerinnen interessiert und keine totale Anpasserin sein will.

Der zehnjährige Heinz ist in der 4. Volksschulklasse ein • gefürchteter Raufer; auf jede noch so kleine Beleidigung reagiert er mit körperlichen Angriffen; er muß sich auch zu Hause gegen seine drei älteren Brüder wehren, sagt er, zudem hat ihn sein Vater gelehrt: Laß dir nichts gefallen! Viele Lehrer klagen, die Zahl jener Kinder steige, bei denen man mit noch so gutem Willen nicht weiterkommt, sie bleiben nicht ruhig sitzen, laufen in der Klasse herum, sind kaum ansprechbar. Dann gibt es auch Kinder, denen anscheinend jedes Verantwortungsgefühl abgeht und die andere sadistisch quälen.

Ja, und dann gibt es die Fälle von verbaler und handgreiflicher sexueller Belästigung. Da gibt es die Zettel mit zottigen Witzen, die unter der Bank herumgereicht werden, die viele Eltern und Lehrer empören, wenn herauskommt, wer damit angefangen hat (dann fordern einige beim Elternabend die Versetzung, andere wollen verstehen statt strafen). Und da gab es jenen 14jährigen Gymnasiasten, der - zunächst unter Gekicher der Mädchen - seinen vor ihm sitzenden Mitschülerinnen die BHs öffnete, später dann immer zudringlicher empfunden dem Klassenvorstand angezeigt und nach einem Disziplinarverfahren von der Schule verwiesen wurde. Sind sie alle neurotisch, verhaltensgestört, geschädigt?

„Die Verhaltensstörung”, so Franz Sedlak, Leiter der Schulpsychologie-Bildungsberatung in Osterreich im Unterrichtsministerium, „gibt es nicht.” Es gehe darum, zu klären, ob das Verhalten eines Schülers überhaupt gestört sei, ob den Lehrer sein Verhalten stört, ob der Lehrer mit seinen Forderungen den Schüler stört -Verhaltensstörung ist ein wechselseitiger Begriff. In seinem Buch „Ver-haltensauffällig Was nun?” (Hrsg. vom Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Pädagogischer Verlag Eugen Ketterl, 2. Auflage, Wien 1994) bringt Sedlak eine Checkliste mit 17 Möglichkeiten für Diagnose-, Beratungs- und Therapieansätze bei Verhaltensauffälligkeiten.

Verhaltensstörungen können als „Dressur-Mißerfolg” diagnostiziert werden. Die Schule wird hier als Institution gesehen, geplante Erziehungsprodukte „funktionsfertig” herzustellen. Verhaltensgestört wären hier jene Schüler, die sich gegen diese Fremdbestimmung wehren und eigene Standorte suchen. Manche besorgte Eltern und Pädagogen, die Verhaltensstörungen als therapiebe-dürftig sehen und fordern, daß Lehrer Therapeuten sein müssen, bewerten Verhaltensstörungen als Folge untherapeutischer Lehrer/innen. Man könnte auch die Schule selbst als verhaltensgestört bezeichnen: Wenn die Schule mit Kindern nicht fertig wird, wird ein Schüler als schuldig herausselektiert, obwohl Störungen Ergebnis eines gegenseitigen Aufschauke-lungsprozesses sind. Dann gibt es die Möglichkeit, daß es in Klassen kracht, wenn zu Hause andere Regeln gelten als in der Schule. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Normen ist Grund für Verhaltensauffälligkeiten von Schülern. Verhaltensstörungen können ein Protest gegen eine düstere Zukunft (No-future-Mentalität) sein, als Absage an die Leistungsorientierung in der Schule, als Überforderung der Schule (was früher Elternsache war, wird jetzt der Schule aufgehalst)und als Kampf zwischen dem Einzelschüler, der auf seine Individualität pocht, und dem Apparat gesehen werden.

Selbstverständlich gibt es auch pathologische Störungen. Sedlak dazu in seinem Buch: „Hinter dieser Auffassung steckt das Konzept der Psychopathie, Soziopathie und auch die Erfahrung mit den sogenannten minimalen Hinrschädigungen, die vor, während oder nach der Geburt eintreten können und dazu führen, daß Betroffene extrem labil, bewegungsauffällig, unruhig oder apathisch sich verhalten, Umstellungsschwierigkeiten zeigen oder auch völlig ohne Risikobewußtsein handeln.”

Unterrichtsstörungen als Verhaltensstörungen zu erleben, ist eine relative Sache. Es hängt von der Konstitution des Lehrers ab (von seinen Nerven, Normen und Neigungen), was er als Verhaltensstörung und damit als lästig und aggressiv empfindet. Wenn die Klassensituation gestört ist, kommt es zu Verhaltensauf-fälligkeiten via Geheimsprache unter Schülern, die Lehrer dann nerven. Es gibt auch Lehrerfortbildner, die meinen, daß Verhaltensstörungen Störungen eines Schülers durch den Unterricht sind („Wenn ein Schüler scheitert, dann scheitert die Schule”, zitiert Sedlak Verfechter dieser Ansicht). Verhaltensstörungen können auch Folge einer Notwehraktion gegen Überlastungen im familiären und äußeren Bereich sein. Dann gibt es in Schulen noch das Aufeinandertreffen zweier Lehrpläne: des geheimen (über Beziehungen) und des offiziellen (über Inhalte). Verhaltensstörungen werden in diesem Zusammenhang als Manifestierungen des geheimen Lehrplans definiert. Und schließlich können Verhaltensstörungen auch Angstabwehr und neurotische Symptome sein: „Es gibt vieles, was Angst bereiten kann in der Schule: das Bombardement von Leistungsforderungen, die Kennzeichnung (Stigmatisierung) als Versager oder Außenseiter (siehe dazu Alfred Pritz, Seite 15, über das Notensystem, Anm. d. Red.), die drohende Trennung von Klassenkameraden, bedrohlich erlebte Personen und deren Sanktionen (Strafaktionen)”, so Sedlak.

Er meint zur furche: „Der Regriff verhaltensauffällig sagt noch nichts aus. Das muß noch nicht schwierig oder gestört sein. Verhaltensschwierig besagt, daß eine bestimmte Haltung beim Handelnden selbst oder beim Mitbetroffenen eine gewisse Schwierigkeit auslöst. Der schwerste Grad ist die Störung, wo ich sage, das Verhalten entspricht nicht dem, was ,normal' ist - .normal' sozial, medizinisch oder ethisch definiert.”

Im Umgang mit Verhaltensschwierigkeiten empfiehlt Sedlak die Anwendung des von ihm sogenannten „solidarischen Modells”. Grundlage dieses Modells sind die persön-lichkeitsbezogenen Rechte oder die Zehn Gebote der Psychohygiene in der Schule (siehe Kasten unten). Zudecken von Problemen wäre die falsche Solidarität. Sedlak geht es um die Bemühung um Einsichtigkeit statt Dressur, um das Vermeiden von Etikettierung einzelner zu Störern, um das Einfühlen in den anderen, um

Dialog und Engagement für die Gemeinschaft, aber auch um die Motivation der Gemeinschaft zum Engagement für jeden einzelnen. Zu Leistungsbereitschaft soll erzogen werden, will heißen zur Arbeit an sich selbst und an der Gemeinschaft. Das solidarische Modell geht von einer Schulpartnerschaft trotz Generationsund Funktionsunterschieden aus, will Konfliktlösung, nicht bloße Harmonisierung und Konfliktvermeidung. Dabei sollen die Einzelpersönlichkeiten der Schüler mit all ihren Verschiedenheiten zusammenwirken, Gleichmacherei und Anpassungsdruck nütze nichts. Schließlich etwas ganz Wichtiges: Statt Geltung (Geltungsdrang sucht nach einer Trennungslinie zwischen sich und anderen, so Sedlak) sollen Werte angestrebt werden. Die notwendige Balance muß immer wieder erkämpft werden, niemand im Schulgeflecht kann und soll sich auf Verordnungen, Verfügungen und Paragraphen ausrasten.

Ein kaum mehr brauchbares Modell für Verhaltensauffälligkeiten ist die Isolation, die allerdings nicht gänzlich abzulehnen sei: „Es kann tatsächlich eine sozial und psychologisch im normalen Klassen verband unbeeinflußbare Störung vorliegen, die eine Behandlung des verhaltensgestörten Individuums beziehungsweise seine relative Isolierung erforderlich machen.” Lehrer und Lehrerinnen beziehungsweise auch Eltern müßten kreativ sein und denken, um Instrumente für das solidarische Modell zu entwickeln. Sedlak gibt einige Operationalisierungsimpulse dafür (siehe Kasten links).

Aufgrund seiner Erfahrung und aus Gesprächen mit den Schulpsychologen in den Bundesländern (siehe Kasten in der Mitte) müsse er sagen, daß es eher keine Vergrößerung des „Gewaltproblems” an den Schulen gebe. Was heute Probleme schaffe, sei vielfach die subtile Gewalt von der Lehrer betroffen seien (siehe Seite 13)

Kritik übt Sedlak an den Bildmedien (dazu Seite 16), die zu einer „Art Abstumpfung oder Desensibilisierung” von Jugendlichen gegenüber der Gewalt beitragen. „Gewalt findet in der Öffentlichkeit interessierte Zu-seher, aber niemanden, der eingreift. Viele Jugendliche sind sich selbst überlassen, vereinsamen, entwickeln wenig soziales Gespür. Einsamkeit ist ein Risikofaktor. Schließlich gibt es auch noch den irrationalen Rest, das Rätsel des Rosen, das ich nicht mehr einfach mit Ursache-Wirkung erklären kann.”

Der Viktor-Frankl-Anhänger verweist schließlich darauf, daß ein „übermäßiges Verständnis” für alles den Einzelmenschen auch entmündigen könne. „Der einzelne hat Verantwortung, spreche ich ihm die ab, kille ich seine Freiheit. Die Umwelt macht zwar vieles, aber nicht alles aus. Wir sind nicht nur Marionetten unsere sozialen Lage und Anlage.”

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