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Sport ist nicht immer gesund

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Eine Bewegungskultur zu entwickeln, ist Anliegen des Sportwissenschaftlers Raimund Sobotka. (Spitzen)Sport macht nicht nur gesund und hart.

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Eine Bewegungskultur zu entwickeln, ist Anliegen des Sportwissenschaftlers Raimund Sobotka. (Spitzen)Sport macht nicht nur gesund und hart.

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dieFurche: Wenn man die Berichterstattung in den Medien, das Ansehen von Spitzensportlern und die gelegentliche Hysterie um nationale Sportereignisse betrachtet, könnte man den Eindruck gewinnen, daß Sport heute in der Gesellschaft die größte Rolle spielt

Raimund Sobotka: Auch neueren Untersuchungen zufolge werden von den Menschen nach wie vor andere Bereiche für wichtiger eingeschätzt: Familie, Beruf, Freizeit, Sicherheit, Wirtschaft, Umwelt. Allerdings rangiert Sport vor Kunst und Religion.

dieFurche: Warum betreiben die Menschen Sport? Um gesund undfit zu sein oder wegen der Leistung?

Sobotka: Die Gesundheit ist ein schwaches Motiv. Das zeigt sich zum Beispiel daran, daß viele Menschen nach Herzinfarkt die im Spital eingeübte körperliche Betätigung in der Regel spätestens drei, vier Wochen nach ihrer Entlassung wieder aufgeben. Eine repräsentative Befragung zwischen 16 und 60 Jahren weist das Motiv Naturerleben beim Sport an erster Stelle aus, dann kommen Fitneß, Ausgleich, Körperstyling, soziale Kontakte, während das Wettkampfmotiv am schwächsten vertreten ist. Spitzensportler sind zwar im öffentlichen Bewußtsein sehr präsent, aber der Zahl nach nicht sehr viele.

dieFurche: Gesundheitssport reicht wohl vom Schwangerschafts- bis zum Seniorenturnen?

Sobotka: Ich würde das noch weiter fassen: Bewegung im täglichen Leben. Gesunde körperliche Aktivität hat mit Strukturierung des Verkehrs, mit Gestaltung von Lebensräumen in Städten zu tun, wieweit dort Menschen (Kinder und Erwachsene) sich gefahrlos bewegen können. Zu-Fuß-Gehen, Radfahren, Stiegensteigen gehören zu einem Lebensstil, der in Osterreich sehr unterentwickelt ist. Da geht es um Imagebildung und Erziehung.

dieFurche: Gehört Sport nicht auch in den Bereich der Erziehung, was das Verhältnis des Sportlers zur Gemeinschaft betrifft?

Sobotka: Sport kann da sowohl verbildende als auch bildende Wirkung haben. Wenn ich als Erzieher im Sportbetrieb nur das Besser-als-die-anderen-Sein im Sinne habe und nichts sonst dort für Kinder erlebbar wird, dann hat das sicher keine positive sozialisierende Funktion. Wenn ich hingegen eine Gruppe von Jugendlichen dazu bringen kann, eine(n) Schwächere(n) mitspielen zu lassen, auch wenn dadurch die Siegeschancen schlechter sind, dann habe ich einen ganz anderen geistigen, sozialen Horizont in das Sporttreiben hineingebracht.

dieFurche: Für die Ausübung von Sport werden die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen herangezogen, von der Psychologie bis zur Gerätetechnologie. Haben sie eine sportspezifische Zubringerfunktion oder entspricht es allgemein der Komplexität des Lebens heute?

Sobotka: Man kann etwas von der Vielschichtigkeit des Sports daran ablesen, wieviele unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen sich mit diesem Phänomen befassen. Über die Zubringerfunktion habe ich meine kritischen Gedanken. Ich stelle zum Beispiel an der Sportmedizin fest, daß sie das Grundprinzip der Medizin, nur zu tun, was nicht schadet, im Leistungssport über weite Strecken massiv über Bord geworfen hat.

dieFurche: Lm Leistungs- und im Freizeitsport gibt es doch sehr negative Entwicklungen wie Zunahme von Sportverletzungen undfrühzeitige, ungleichmäßige Abnützung des Bewegungsapparats?

Sobotka: Bis vor ungefähr zehn, 15 Jahren hat man gesagt: Bewegung ist gesundheitlich gut, denn sie hilft, In-aktivitätsatrophien, Herz-Kreislauf-Todesfälle und so weiter zu verhindern, viel Bewegung ist besser, und am allerbesten ist sehr viel Bewegung. Das ist einfach falsch. Zu den schon genannten Beispielen kommt für mich als mindestens gleich problematisch, was man erst in den letzten Jahren erforscht hat, daß hohe Trainingsintensitäten eindeutig negative Auswirkungen auf das Immunsystem haben. An 780 verstorbenen tschechischen Hochleistungssportlern wurde bereits vor zirka 20 Jahren nachgewiesen, daß die Krebs-Todesrate höher war als die der durchschnittlichen Bevölkerung ihrer Altersstufe. Dieses Ergebnis ist bagatellisiert worden, gezielte Untersuchungen wurden nicht angeschlossen. Ich finde es problematisch, daß bei der starken Förderung des Leistungssports, die durch das Staatssekretariat für Sport initiiert wurde, als Präambel die positive gesundheitliche Wirkung herausgestellt wird. Das ist Etikettenschwindel.

dieFurche: Im Schulsport und im professionellen Sportbetrieb wird heute die Kompetenz ehrenamtlicher Funktionärebestritten Gilt das auch für den Gesundheits- und Amateursport?

Sobotka: In meinem Verständnis ist die Fachkompetenz, das Wissen über den Sport und seine Zusammenhänge, auf allen Ebenen wichtig. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Ausbildung der Volksschullehrer im Hinblick auf das Unterrichtsfach Leibesübungen mangelhaft ist. Im freien Sport gibt es schon lange Maßnahmen, Know-how über Sport zu vermitteln. Das geht von der Lehrwarte-bis hin zur Trainerausbildung. Auch im Leistungssportbetrieb werden zunehmend ausgebildete Leibeserzieher oder Sportwissenschaftler eingesetzt. Ein großer Nachholbedarf besteht auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und administrativen Führung von Vereinen. Vor allem im finanziellen Bereich treten Fehler und Mängel deutlich zutage.

dieFurche: Daß schon in der Schule für verschiedene Sportarten gesiebt wird und daß Schultypenfür Talenteförderung in jeweils einer ganz bestimmten Sportart entstehen — ist das eine brauchbare Entwicklung?

Sobotka: Es gibt nicht nur die Spezialschule, zum Beispiel das Schigymnasium, sondern auch das Sportgymnasium mit einer allgemein motorischen Ausbildung. Eine solche Schule, die ein vermehrtes Angebot an Leibesübungen und Sportmöglichkeiten ohne frühe Spezialisierung bereitstellt, sehe ich positiv, mit einer Einschränkung: wenn man meint, weil man ein paar solcher Schulen führt, braucht man für den Sport oder für die Leibeserziehung im allgemeinen Schulwesen nichts mehr tun. Bei Spezialschulen bin ich eher skeptisch. Es gibt viele Untersuchungen, wonach frühe Spezialisierung (etwa Acht- bis Zwölfjährige) nicht so leistungsför-dernd ist wie man es sich erwartet.

dieFurche: Wir kommen also nochmals zum Vzrhältnis von Sport zu Bewegung im allgemeinen?

Sobotka: Ich habe vor kurzem den einschlägigen Abschnitt im Stadtentwicklungsplan für die Gemeinde Wien erstellt, in dem ich den Begriff der Fundamentalmotorik herausarbeite. Ich rede da absichtlich nicht von Sport, weil Sport im alltäglichen Sprachgebrauch immer mit Leistungserbringung, mit Präsentation, mit Erfolg, mit öffentlicher Anerkennung gleichgesetzt wird. Die wichtigste Zeit der Förderung der individuellen Entwicklung über die Bewegung sind die ersten Lebensjahre. Natürlich hat die Bewegung in den ersten Lebensjahren auch für andere Bereiche eine Bedeutung, ob ich mich in meinem Körper wohlfühle, wie ich mit ihm umgehen kann. Auch für die Ausbildung der Ich-Identität und eines positiven Selbstkonzeptes ist die Bewegung - eingebunden in Erziehung und Sozialisation in der Familie -' wichtig. Eine derartige existentielle Bedeutung für jeden Menschen bekommt die Bewegung, der Sport, in späteren Jahren nie mehr wieder, auch wenn das in der Gesellschaft ganz umgekehrt ist: Dort wird die sportliche Leistung der Erwachsenen großgeschrieben, die körperliche Betätigung der Kinder in den ersten Lebensjahren interessiert niemanden, auch viele Eltern wissen nicht um ihre Wichtigkeit.

Das Gespräch

führte Rainer Zitta.

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