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Stiefkind Slawistik?

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Seit dem Staatsvertrag haben sich Oesterreich auf dem Gebiet der slawischen Philologie und Forschung neue Möglichkeiten eröffnet. Der unmittelbare Kontakt zu den Akademikern der östlichen Länder, zu den Vertretern der dortigen Wissenschaft, ist erleichtert und von der betont politischen Note befreit.

In den breiten Schichten der österreichischen Oeffentlichkeit wird vielfach noch übersehen, daß hier eine echte Chance Oesterreichs liegt. Die Erinnerung an die historische Mittlerrolle des Landes zwischen der westlichen Welt und den Völkern des europäischen Ostens und Südostens ist noch überschattet von den bitteren Erfahrungen des kalten Krieges und einer zehnjährigen Besatzung. Können wir es uns aber leisten, auf eine Chance1 zu verzichten, die sich aus unserer Geschichte ebenso wie aus unserer politischen und geographischen Lage eigentlich von selbst ergibt?

Schon heute ist der Bedarf an Slawisten größer, als allgemein angenommen wird. Dieser Bedarf wird sich einst sprunghaft erhöhen, wenn es — auf weite Sicht hinaus — zu einer aufgelockerten und liberaleren Atmosphäre in den Volksdemokratien kommen sollte. Es wäre notwendig, daß wir uns in viel stärkerem Maße als bisher auf die Begegnung mit den Völkern des Ostens vorbereiten. Ausgebildete Fachleute, wenn man sie einmal braucht, kann man nicht über Nacht schaffen.

Der Anfang liegt naturgemäß im Sprachlichen. Da das menschliche Denken auch von der Sprache her beeinflußt wird, erleichtert es nicht nur den direkten Kontakt, sondern auch das menschliche Verstehen, wenn man auf keinen Dolmetscher angewiesen ist. Auch die wissenschaftliche Literatur der Oststaaten ist meist nur im Originaltext zugänglich.

Nun gibt es in Oesterreich approbierte Lehrbücher und Lehrpläne, und auch an den ausgebildeten Kräften für den Sprachunterricht

fehlt es nicht. So besaßen nach dem Stand des vorigen Jahres zirka 100 Personen die Lehrbefähigung für Russisch an Hauptschulen, 10 im Rahmen einer Fachgruppe und 15 für Mittelschulen.

In den Lehrplänen für Mittelschulen sind Russisch, Tschechisch, Kroatisch und Slowenisch vorgesehen. Das Tschechische wird praktisch nicht gelehrt, obwohl in der Zeit der Ersten Republik hier eine sehr starke Aktivität entfaltet worden war. Das Kroatische und Slowenische werden in jenen Gegenden Kärntens, der Steiermark und des Burgenlandes unterrichtet, wo es sprachliche Minderheiten gibt.

An Wiener Mittelschulen erhielten während des Schuljahres 1956/57 noch 236, an Hauptschulen 100 Schüler Russischunterricht. In Niederösterreich wurden 175 Schüler an Mittelschulen, 12 an Handelsschulen, 112 an technischen und gewerblichen Lehranstalten sowie 1915 Schüler an Hauptschulen unterrichtet. An den burgenländischen Hauptschulen gab es schon im vergangenen Jahr keinen Russischunterricht mehr, vor zwei Jahren waren jedoch noch 594 Schüler vorhanden.

Wenn auch der. Besuch des fakultativen Unterrichts hinter dem des obligatorischen der früheren Jahre zurücksteht, so läßt sich doch ein fortgesetztes Interesse erkennen, das während der Tragödie Ungarns vor Jahresfrist stark absank, seither aber wieder das frühere Maß erreicht hat. So hatten sich 1956/57 an Wiener Mittelschulen 226 Schüler und an Hauptschulen 59 Schüler für Russisch als Freigegenstand entschieden. In Niederösterreich waren es an Mittelschulen 206. an Handelsschulen 70 und an Hauptschulen 243 Schüler. Im Burgenland fanden sich noch 59 Mittelschüler. Ferner lernten in Oberösterreich 68 Handelsschüler und 25 5 Hauptschüler sowie in Salzburg 28 Handelsschüler Russisch.

Der hier herangezogene Nachwuchs braucht

sich wohl für die Zukunft keine Berufssorgen zu machen. Wer sich heute für Russisch als Unterrichtsfach entscheidet, kann damit schon ein bestimmtes Berufsziel verbinden. Es mag ihm eine Tätigkeit im diplomatischen Dienst oder bei einer internationalen Organisation vorschweben, er mag an einen Wirkungskreis der Wirtschaft denken, oder die in russischer Sprache erschienene wissenschaftliche Literatur wird für ihn von besonderem Wert sein. In keinem Fall sollte man das Interesse für die russische oder eine andere slawische Sprache mit Sympathien für den Kommunismus verwechseln; die russische Sprache ist bekanntlich weit älter alsd er Bolschewismus.

Ohne die unbestrittene Spitzenstellung des Englischen anfechten zu wollen, scheint doch das Mißverhältnis unter den philologischen Fächern so stark zu sein, daß es dem tatsächlich vorhandenen Bedarf offensichtlich nicht gerecht wird. Im Jahre 1956/57 gab es an der Universität Wien nur neun Hörer für slawische Philologie und Altertumskunde gegenüber 187 Germanisten, 175 Anglisten und 27 Romanisten. In den Bundesländern war das Verhältnis mit sechs Slawisten gegenüber 75 Germanisten, 54 Anglisten und 29 Romanisten ähnlich.

Daß dies nicht nur ein relatives, sondern ein absolutes Mißverhältnis darstellt, zeigt beispielsweise der Umstand, daß ein Großteil der in russischer Sprache erscheinenden wissenschaftlichen Literatur in Wien bisher nicht ausgewertet werden konnte. Es gibt etwa auf medizinischem Gebiet zahlreiche russische Fachwerke und -Publikationen, die auch für die österreichische Wissenschaft von größtem Wert wären.

Man ist in den meisten Fällen gezwungen, darauf zu warten; bis eine Uebersetzung aus dem — Englischen vorliegt! Da aber, wie kürzlich W. R. Hearst ausführte, auch in Amerika die russische Fachliteratur nicht immer recht-

zeitig oder hinreichend ausgewertet wird, bleibt uns auch auf diesem, an sich unnötigen Umweg noch vieles verschlossen. Ein anschauliches Beispiel für das echte Anliegen unserer Wissenschaft boten jene zwölf Wiener Chemiestudenten, die sich aus eigenem Antrieb vor kurzem zum Studium der russischen Sprache entschlossen, damit ihnen die Fachliteratur zugänglich würde.

Wenn auf der einen Seite auch die vorhandenen Chancen noch nicht voll erkannt worden sind, so gibt es doch anderseits genügend Menschen in Oesterreich, die sich Gedanken über die Vernachlässigung der Ostforschung im allgemeinen und des „Stiefkindes Slawistik“ im besonderen machten, und die dazu beitragen wollen, daß hier Abhilfe' geschaffen wird. Bestrebungen dieser Art haben sich in Wien und in den Bundesländern verschiedene Vereinigungen und Studiengruppen zum Ziel gesetzt. Ihre Arbeit soll nicht zersplittert werden, sondern es wird derzeit der Versuch unternommen, sie im Rahmen einer „Arbeitsgruppe Ost“ zusammenzufassen. Ihren Absichten entspricht es auch und vor allem, die Pflege der slawischen Sprachen entsprechend anzuregen und zu fördern. So hat man bereits 1957 in Fiechtenstein, Oberösterreich, erstmalig Sommerkurse in russischer Sprache abgehalten, die bemerkenswert erfolgreich waren und auch heuer fortgesetzt werden sollen. In Rief (Salzburg) ist im Frühjahr eine Tagung aller interessierten Verbände angesetzt, auf der die in Frage stehenden Probleme ebenfalls besprochen werden sollen.

Es liegt im wohlverstandenen Interesse Oesterreichs, aber auch des Friedens und der internationalen Verständigung in Europa, daß die Bestrebungen, unsere Kenntnisse über die slawischen Länder zu erweitern und das Studium der slawischen Sprachen zu fördern, von Erfolg gekrönt sind.

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