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Studium und soziale Herkunft

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Die Anregung des Grazer Universitätsprofessors Dr. J. Dobretsbergcr, für die Schlichtung der Streitfrage, ob Bildung in Österreich tatsächlich ein Klassenmonopol sei, die nötigen statistischen Grundlagen zu sdiaffen („Die soziale Herkunft unserer Intelligenz“, „Die Furche“, Nr. 1, 4. Jänner 1947), wurde für den Sektor Mittelschulwesen in einigen Mittelschulorten aufgegriffen. Die Ergebnisse der dort eingeleiteten Erhebungen stimmen in so weitgehendem Maße überein, daß ruhigen Gewissens behauptet werden darf, in ihnen spiegeln sich die durchschnittlidien Herkunftsverhältnisse für die Studierenden an sämtlichen österreichischen Mittelschulen.

Da die Erhebungen über die soziale Herkunft der Mittelschuljugend nicht überall einheitlich durchgeführt worden sind, erweist sich zur Veransdiaulidiung der Herkunftsverhältnisse die Teilung der gesamten Bevölkerung Österreichs in folgende sieben Standesgruppen als notwendig:

1. Akadcmikerfamilien;

2. Lehrer, Offiziere, Maturanten;

3. Gewerbetreibende (Kleingewerbe, Großgewerbe) und Gesdiäftsleute, darunter auch Inhaber von Gaststätten;

4. Bauern;

5. kleine Beamte und Angestellte;

6. Arbeiter;

7. Landarbeiter.

Den Anteil dieser Gruppen an der Schülerzahl der einzelnen angeführten Mittelschulstädte zeigt die folgende Übersicht. Dabei spiegeln die beiden ersten Beispiele (Linz an der Donau und Krems an der Donau) die Verhältnisse in ausgesprochenen Schulzentren (Großstadt und provinzielle Schulstadt), die beiden letzten Beispiele jene für vorwiegend ländliche Mittelschulorte:

Realgymn. Gymnasium Standes. Ltnzer Kremser Spittal/Dr., Freistadt, gruppe MlttelBch. Mittelsch. Kärnten O.-O.

1. 17,5% 13,0% 19,9% 14,6%

2. 18,5% 18,3% 19,8% 11,1%

3. 21,0% 21,5% 25,9% 25,7%

4. 4,1% 7,4% 5,5% 13,4%

5. 27,9% 25,4% 26,4% 26,5%

6. 10,8% 14,1% 10,3% 8,1%

7. 0,2% 0,3% 0,2% 0,6% 100,0% 100,0% 100,0% 100,0%

Nach der vorangehenden Aufstellung er-. scheint in Österreich nur der Stand der Landarbeiter fast vollkommen vom Studium ausgeschlossen.

Allen übrigen Ständen oder Berufsgruppen innerhalb unserer Staatsgemeinschaft ist, wenn man von gewissen wenig verkehrsaufgeschlossenen bäuerlichen Gebieten absieht, infolge der oft überaus dichten Streuung der Mittelschulen die Möglichkeit des Mittelschulstudiums in gleicherweise gegeben. Wenn die Berufsstände der Akademiker, Lehrer, Maturanten, Gewerbetreibenden und Geschäftsleute im Vergleich zur Bevölkerungszahl überwiegen, also die » größere Masse unseres Volkes, die Bauern und Industriearbeiter, weniger Mittelschulkinder stellen, so sind in unserem in sozialer Hinsicht schon stark ausgeglichenen Gesellschaftskörper nicht wirtschaftliche Gründe, sondern vielfach schichttypische, also rein standesbedingte Denkinhalte als Hindernisse für den Besuch einer Mittelschule haftbar zu machen,

Welcher Mensch, der je die Segnungen einer wahrhaften, den Geist und die Seele erfassenden Erziehung und Bildung erfahren hat, die ihm das gesamte Menschen-, Natur-und Weltgeschehen von einer höheren Warte betrachten lehrt, wird es als etwas Besonderes ansehen, wenn gerade die Familien der Akademiker, der Lehrer, Offiziere und Beamten mit Matura ihre Kinder nahezu vollzählig dem Studium zuführen und das meist unter großen geldlichen Opfern. Das Gegenteil, die Nichtauf geschlosscnheit gegenüber der Sdiule, wäre hier erst das Bemerkenswerte.

So gründet sich auch die auffallend mittelschulfreundliche Haltung der Familien des Gewerbe- und Kaufmannsstandes hauptsädtlich auf ihrer durch den Lebens- und Berufs- (Konkurrenz-) Kampf gewonnenen Erkenntnis, daß für ihre Kinder eine gediegene Ausbildung und eine den Horizont weitende Sdiulbildung das beste

Rüstzeug, Anfangs- und Betriebskapital für den späteren Lebens- und Berufsweg darstellen. Nicht verschwiegen sei freilich, daß die mittelschulfreundliche Haltung der „oberen“ Schichten auch in starkem Maße ursächlich mit ihrem Bestreben zusammenhängt, ihren Kindern durch das Studium zu einer gesellschaftlich mindest ebenbürtigen Lebensexistenz zu verhelfen.

Der fortschreitenden Anteilnahme der breiten Arbeitermassen am Leben des Staates, ihrem erhöhten Wirken innerhalb der Berufsorganisationen und politischen Ausdrucksbewegungen der Zeit entspricht auch der bereits beachtliche Hundertsatz der Arbeiterkinder an den österreichischen Mittelschulen (Freistadt, Oberösterreich: 8,1 Prozent, Spittal an der Drau: 10,3 Prozent, Linz: 10,8 Prozent, Krems: 14,1 Prozent); ja, ihr hoher Anteil stempelt die Realschulen (Bundesrealschule in Linz an der Donau: 16,4 Prozent, Bundesrealschule Krems: 17,8 Prozent) geradezu zur Mittelschule der Arbeiter, kleinen Beamten und Angestellten (38,7 Prozent und 39,5 Prozent.) Jeder wahrhaft sozial denkende und fühlende Mensch wird in seinem Streben nach einer alle unbilligen Härten ausschließenden Staatsgemeinschaft diese sozial ausgleichende Entwicklung begrüßen und billigerweise durch unterstützende Einrichtungen (Forderung nach völliger Abschaffung des Sdiulgeldes, Beistellung von Lernmitteln, Errichtung oder Erweiterung von Internaten für auswärtige Schüler und Gewährung von Stipendien) fördern, schon in Hinblick auf den heute der Wahrheit nicht mehr entsprechenden unä

damit völlig unberechtigten Vorwurf, daß die Mittelschule ein Klasseninstitut der Reichen oder Bildung ein Klassenmonopol sei. Wenn der Hundertsatz der Arbeiterkinder im Vergleich zum Bevölkerungsanteil der Arbeiterfamilien da und dort auch wesentlich geringer ist, so liegt die Ursache heute meist nicht mehr in der geringeren wirtschaftlichen Stärke begründet, denn die qualifizierten Arbeiter verdienen heute meist mehr als der Durchschnitt der Angehörigen eines intellektuellen Berufes; man vergleiche nur das durchschnittliche Monatsgehalt eines Maschinsetzers (1400 S), eines Bergarbeiters (1200 bis 1400 S), eines Hilfsarbeiters in großen Werken (900 bis 1000 S) mit dem durdischnittlidien Monatsgehalt der großen Masse der Akademiker und Beamten im öffentlichen Dienst (600 bis 1000 S); ähnliche Lohnverhältnisse herrschen in einer ganzen Reihe von Gewerben, und sie bestanden verhältnismäßig auch vor Jahren schon so.

Nicht in den finanziellen Verhältnissen, sondern in anderen Gegebenheiten liegt die Ursache, daß der Sohn des Arbeiters seltener zur Mittelschule kommt. Wie wollte man sonst die mittelschulfreundliche Haltung der finanziell oft weit schwächer gestellten kleinen Beamten und Angestellten erklären, die an sämtlichen Mittelschulen Österreichs, ja sogar an den Hochsdiulen durchsdmittlich ein Viertel und mehr der Gesamtschüler-, beziehungsweise Gesamthörersdiaft stellen (Linzer Mittelschulen: 27,9 Prozent, Kremser Mittelschulen: 25,4 Prozent, Gymnasium Freistadt: 26,5 Prozent, Realgymnasium Spittal an der Drau: 26,4 Prozent, Universität Graz: 36,4 Prozent) und damit weit über den natürlichen Bevölkerungsanteil dieser Standesgruppe hinausgreifen. Wie wollte man es andererseits begründen, wenn die volkreiche Industrie- und Arbeiterstadt Linz an der Donau trotz der zahlreidien Mittelschulen nur 10,8 Prozent Arbeiterkinder unter ihrer Mittelschuljugend zählt; wie sollte man anders die Ergebnisse deuten, die diesbezügliche Untersuchungen an den Kremser Mittelschulen lieferten, nach denen einerseits für die bildungsaufgeschlossenen, außerhalb des Schulortes wohnenden Arbeiterfamilien trotz vielfach großer Entfernung und Kosten nahezu die gleidien Hundertsätze wie für die Kinder der übrigen Standes- und Berufsgruppen gelten (auswärtige Arbeiterkinder: 47 Prozent; auswärtige Kinder der übrigen Standesgruppen: 49 Prozent), andererseits aber ein Stadtteil von Groß-Krems, der räumlich und verwaltungsmäßig mit Krems an der Donau eine Einheit bildet und dessen Bevölkerung sich zum überwiegenden Teile aus Arbeitern, kleinen Weinhauern und Kleingewerbetreibenden zusammensetzt, trotz des Vorhandenseins zahlreicher Mittelschulen im unmittelbaren Stadtbereich nur eine ver-^ schwindend geringe Anzahl von Mittelschülern stellt: bei etwa 6000 Einwohnern nur 16 Mittelschüler und Mittelsdiülerinnen, Altstadt Krems dagegen bei etwa 15.000 Einwohnern (= 21/2mal soviel) 246 Mittelschüler und Mittelschülerinnen (= 15mal soviel).

Eindringende Untersuchungen der verschiedenen soziologischen Verhältnisse, die Berüdcsichtigung der besonders gearteten sozialen Schichten und des verschiedenen Grades der Auflockerung durch die „oberen“, sogenannten „gebildeten“ Standes- und Berufsgruppen, die vorhandenen milieubedingten festen Anschauungen und Gewohnheiten würden den Forschenden hier wie dort auf die wahre Ursache der geringen Anteilnahme der Arbeiterkinder an der Mittelschule weisen: sie liegt in der gefährlichen Spaltung, die heute die soziale Gemeinschaft durdizieht, in der Trennung der alten bourgeoisen Welt von der marxistischen, wobei dieser Gegensatz nicht politisch, sondern weltanschaulich zu fassen ist. Dem Arbeiter widerstrebt es instinktiv, seinen Sohn durch die Mittelschule in eine Welt zu schicken, die er als rückständig, feindlich, reaktionär ansieht. Für ihn ist das gewiß keine formelle Überlegung, aber ein tiefes Ressentiment. Also nicht die Mittelschule ist daran schuld, wenn die Arbeiterkinder zu wenig in die Mittelschule und zu höherer Bildung aufsteigen, auch nicht so sehr der Unterschied der Entlohnung materieller und geistiger Arbeit, und nicht die Möglichkeit des Arbeitersohnes, wenn er der Spur seines Vaters folgt, früher ins Verdienen zu kommen, sondern Ursache ist die Zerspaltung der Gesellschaft in zwei Klassen: in eine völlig säkularisierte, materialistische und in eine, in der noch die abendländische christliche Vor stellungsweit mehr oder weniger das Denken beherrscht. Die Überwindung dieses Gegensatzes ist das Problem der Gegenwart; es tritt uns heute überall entgegen und bedroht uns, wenn wir nicht alles tun, es zu lösen.

Der geringe Anteil der bäuerlichen Jugend an der Schülerschaft, selbst der Provinzmittelschulen (Linz an der Donau: 4,1 Prozent, Spittal an der Drau: 5,5 Prozent, Krems an der Donau: 7,4 Prozent, Freistadt: 13,4 Prozent; vergleiche dazu auch: Technische Hochschule in Wien: 1,86 Prozent, Universität Graz: 7,1 Prozent), gegenüber dem großen Bevölkerungsanteil, der in der Land- und Forstwirtschaft tätig ist (30 Prozent der Gesamtbevölkerung), muß einerseits mit Standesgewohnheiten und besonderen Umweltverhältnissen, andererseits aber auch in hohem Maße mit soziologischen und geistig-seelischen Umsdiichtungen in Zusammenhang gebracht werden, die sich seit etwa zwei Jahrzehnten innerhalb unseres Bauernstandes vollziehen. Denn zu der bisweilen schwächeren wirtschaftlichen Lage, der oft zu großen Entfernung vom Schulort, der manchmal verkehrsabgeschlossenen Lage des Wohnortes oder bäuerlichen Hofes, der vielfach auch geringeren Aufgeschlossenheit der Schule gegenüber trat in neuerer Zeit auch in vielen Teilen unseres Bauernlandes das auffallende Nachlassen der Geburtenfreudigkeit innerhalb unserer bäuerlichen Bevölkerung als weiterer hemmender Faktor hinzu. (Einem Durchschnitt von 2 Kindern je Familie in der Gegenwart entsprach ein solcher von 4 bis 5 Kindern je bäuerlicher Familie in der Vergangenheit.) Nur mehr kinderreiche bäuerliche Familien können es sich bei dem erschreckenden Mangel an Landarbeitern heute im allgemeinen noch leisten, ein Kind oder mehrere Kinder dem Studium und einem.Intelligenzberuf zuzuführen, ohne den eigenen landwirtschaftlichen Betrieb schädigen zu wollen. Dazu gesellt sich außerdem noch als mittelschulfeindlicher Faktor der besondere, seit der Industrialisierung Europas zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftretende und stark wirksame Gedankenkomplex, nach dem am eigenen Hofe überzählige Kinder nachwuchsreicher Familien mit bäuerlichem Mittel- oder Kleinbesitz die Erfüllung ihres Strebens nach einem „besseren“ und „angenehmeren“ Dasein bereits in den Berufsgattungen des städtischen Industriearbeiters oder Handwerkers und, in den unteren, keine höhere Schulbildung erfordernden Dienstposten bei der Polizei, Gendarmerie, Finanz- und Zollwache, Post und Eisenbahn verwirklicht sehen.

Einzig und allein- der Stand der Landarbeiter, der an keiner Sdiule ein Prozent der Schüler stellt, darf seinen bis heute wirkenden, nahezu völligen Ausschluß von den Bildungsgütern der Menschheit in erster Linie mit seiner wirtschaftlichen und sozialen Not begründen. Der wirt-sdiaftlichen Besserstellung und kulturellen Hebung dieses Standes darf sich somit heute kein Mensch länger verschließen, wenn nicht durch kurzsichtiges Verharren in einem ungerechten und auf die Dauer unerträglichen Zustand zum Schaden der gesamten Staatsgemeinschaft der Nährboden für unheilvolle und gewaltsame Lösungen geschaffen werden soll. Daß eine friedliche und befriedigende Überwindung des Landarbeiterelends und damit auch die kulturelle Hebung dieses Standes möglich ist, zeigen bereits heute die aus eigenem Antrieb verwirklichten und weitblickendem Handeln entspringenden Lösungen der freilich noch spärlichen Landwirte, die mit bäuerlichem Wesen und Wirken auch gesunden Unternehmungsgeist zu verbinden verstehen.

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