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Flexibilität ist kein Erziehungsprogramm und die Versorgung der Schulen mit Computern ist keine Bildungsreform: Forderungen an jede künftige, bürgerlich-christliche Bildungspolitik.

Die Wahl hat einen unerwarteten Sieg der ÖVP gebracht. Zwar stehen die Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung noch aus, doch ist nicht zu übersehen, dass die Volkspartei die bestimmende Kraft sein wird. Ohne sich auf Wähleranalysen einzulassen, wird man nicht fehlgehen, dass zunächst Wirtschaftsfragen im Vordergrund stehen werden: Probleme der Arbeitslosigkeit, des wirtschaftlichen Aufschwungs, der Sicherung der Sozialsysteme.

Angesichts dessen besteht die Tendenz, auch das Bildungs- und Schulsystem auf diese Aufgabe hin zu ordnen. Die Menschen sollen lernen, flexibel und effektiv zu sein, um sich auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse einzustellen und im Wettlauf um den ökonomischen Erfolg in einer globalisierten Welt den Sieg davon zu tragen.

Utilitarismus en vogue

Diese einschränkende Bemerkung soll nicht die Notwendigkeit gediegener Ausbildung für gesellschaftliche Zweck widerrufen. Funktionsbetontes Wissen und Können gibt dem Einzelnen Sicherheit. Er kann auf Grund seiner Qualifikationen für sich selber sorgen, er gewinnt Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, sieht sich als nützliches Glied der Gesellschaft und trägt seinen Teil zum Wohl des Ganzen bei. Je mehr sich aber diese zweifellos wichtige Aufgabe einer guten Ausbildung für gesellschaftliche Funktionen, Berufe und Aufgaben in den Mittelpunkt pädagogischer Aktivitäten drängt, desto weniger gelingt die erforderliche Funktionsertüchtigung. Schon jetzt klagen Manager, Industrieführer und Unternehmer über den Mangel an guter Qualifikation.

Das klingt zunächst wie ein Widerspruch: Je mehr Technik und Wirtschaft den Unterricht und die Erziehung unter ihr Joch zwingen, desto weniger kann die Schule deren Erwartungen erfüllen. Der Widerspruch löst sich dann auf, wenn man das oberflächliche Bedürfnisgerede durchschaut. Dann wird deutlich, dass gerade in einer Welt, die zunehmend von der Anwendung durch Wissenschaft definiert ist, auch an die Ausbildung Ansprüche gestellt werden, die diese überschreiten.

Diese Ansprüche decken sich mit dem, was Pädagogik in ihrem tradierten Verständnis als allgemeine Menschenbildung zu bestimmen sucht. Ohne überschauende Einsicht, ohne Charakterfestigkeit kann man der beruflichen Herausforderung nicht gerecht werden; ohne allgemeine Bildung gerät Ausbildung zur Instrumentalisierung des Menschen. Sein Wert ermisst sich dann an seiner Brauchbarkeit. Wer für Wirtschaft und Technik, für gesellschaftlichen Einsatz nicht brauchbar ist, der wird schließlich von einer "gewissenlos" gewordenen Gesellschaft ausgesondert.

Diese fatalen Folgen können weder von einem humanistisch orientierten Bewusstsein und noch viel weniger vom christlich orientierten Denken geduldet werden. Man erinnert sich mit Abscheu an die Verbrechen, die als schreckliche Folgen dieses Denkens begangen wurden. Umso mehr hätte eine Bildungspolitik in christlich humanistischer Verantwortung Anlass, sich auf ihre Grundlagen zu besinnen. Das ist es, was die Wähler von einer sich dem christlichen Denken verpflichteten Partei erwarten. Gerade sie kann sich in ihrer Bildungspolitik nicht einem dumpfen Utilitarismus unterwerfen. Die Wähler haben die ÖVP nicht nur wegen der Wirtschafts- und Sozialpolitik gewählt, sondern auch, um ihren Kindern die Entfaltung ihrer Persönlichkeit durch Schule zu ermöglichen.

Die katholischen und evangelischen Bischöfe in Baden-Württemberg haben kürzlich ein Wort zur "aktuellen Bildungsdiskussion" veröffentlicht. "Ziel aller Bildung ist die Menschwerdung des Menschen", so lautet der zentrale Satz ihrer Botschaft. Dieses Ziel schließt "berufliche Ausbildung und Fortbildung" ein, muss aber mehr sein, "wenn der Mensch als Person nicht Schaden nehmen soll." Dazu gehört es nach Meinung der Bischöfe, die geschichtlichen Wurzeln zu kennen, den Umgang mit Pluralität einzuüben, lebendigen Religionen zu begegnen und die unaufhebbare Würde jedes Menschen zu achten. Schließlich wird dies unter folgender Devise zusammengefasst: "Schulentwicklung braucht ein umfassendes Verständnis von Bildung."

Niemand wird erwarten wollen, dass österreichische Bildungspolitik sich den Imperativen kirchlicher Hierarchien unterwirft. Aber dass von einem christlich-humanistischen Denken die Schule dem ökonomischen Diktat unterworfen wird, kann wohl von manchen als Skandal gegenüber unserer Tradition und als Missachtung des Wählerwillens kritisiert werden.

Natürlich weiß der Schreiber dieser Zeilen, dass Bildungspolitik dem Menschen kein Programm seiner Gesinnung vorschreiben kann. Dass Pluralismus nicht nur zugestanden, sondern als besonderes Recht seiner Person anerkannt werden muss, ist klar und bindet auch das bildungspolitische Wollen. Gerade diese Grenze muss aber auch eingehalten werden, wenn Schulen und pädagogische Einrichtungen allein dem wirtschaftlichen Nutzen ausgeliefert werden. Eine bürgerlich-christliche Bildungspolitik hätte aus ihrem Selbstverständnis und aus dem Auftrag der Wähler die Verpflichtung, den Menschen für die Bewältigung des gesamten Lebens auszustatten und sich nicht instrumentalisieren zu lassen, weder durch die Wirtschaft, noch durch die Politik, aber auch nicht durch die Kirche selbst. Dieses Fundament gilt nicht als bequeme Rückzugslinie, sondern als verbindlicher Auftrag - mag die Wirklichkeit noch so viele Gegenbeispiele liefern.

Schatz der Tradition

Wenn jener Grundsatz gilt, dann lassen sich einige Konsequenzen für die Bildungspolitik entfalten:

* Ihre Sorge hat der Tradition zu gelten - nicht in einem konservierenden Sinne, sondern in der Verpflichtung, die hochwertigen Objektivationen menschlichen Schaffens der kommenden Generation nicht vorzuenthalten, aber auch die Abgründe der Geschichte nicht zu verschweigen. Auf jeden Fall gilt, dass eine Bildungspolitik, die die Tradition missachtet, die Zukunft von Staat und Nation verspielt.

* Eine Bildungspolitik, die die Pflege der Tradition als romantischen Konservatismus sieht, missachtet das Recht eines jeden Menschen, sich gemäß seinen Möglichkeiten am erreichten Stand der Kultur emporzubilden. Gerechtigkeit im Bildungswesen schließt auch dieses ein - nämlich jeden zu fördern, auch in der Teilhabe an Kultur. Diese Förderung schließt die Forderung ein, sich mit der Tradition auseinanderzusetzen. Sie wird zum Anspruch an den Lehrenden, und es ist nicht in das Belieben der einzelnen Schule oder des einzelnen Lehrers gestellt, sich dieser Aufgabe zu entziehen.

* Eine christlich orientierte Bildungspolitik verbindet den Fortschritt von Wissenschaft und Technik mit dem der Verantwortung. Diese kommt nicht als zufällige Beigabe zum Wissen und Können hinzu, sondern erwächst aus jenem Wissen, das nicht als Ware gehandelt wird, sondern sich dem Wahren verpflichtet fühlt.

* Bildungspolitik muss schließlich die Pluralität von Meinungen und Überzeugungen anerkennen. Damit kann nicht ein bequemer Kompromiss gemeint sein, sondern die Folge eines unverzichtbaren Rechtes selbständigen Denkens der Person. Pluralismus ist nicht das Programm des "anything goes", sondern eine bleibende Herausforderung im Ringen um die jeweils beste Antwort.

* Von einer christlich-bürgerlichen Bildungspolitik ist die Sorge für eine Erziehung zu erwarten, die einerseits nicht zu Standpunktlosigkeit, andererseits aber auch nicht zur Intoleranz führt. Das ist etwas anderes als das von ministeriellen Verordnungen propagierte soziale Lernen, als Flexibilität oder Anpassungsfähigkeit. Überhaupt ist es schon merkwürdig, wie auch die Bildungspolitik einer christlich orientierten Partei in blindem Modernismus Absichten und Wortbildungen einer längst überwundenen modischen Erziehungswissenschaft weiter propagiert.

Natürlich weiß eine sich reflektierende wissenschaftliche Pädagogik, dass sie sich vom Staat nicht ihre normativen Vorgaben verordnen lassen kann. Dennoch kann Bildungspolitik nicht darauf verzichten, ein für den Staat verbindliches System von Wertvorstellungen für ihre Schüler geltend zu machen. Gerade deshalb darf die Bildungspolitik einer auf christlich humanistischer Grundlage agierenden Partei sich nicht zu jenem Missbrauch von Schule hinreißen lassen, wo diese nur noch als Instrument wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Nutzens gesehen wird. Flexibilität ist kein Erziehungsprogramm und die Versorgung der Schulen mit Computern ist keine Bildungsreform.

Pädagogische Unvernunft

Dem neuen Regierungsprogramm wäre dringend zu empfehlen, der Humanisierung der Schul- und Bildungseinrichtungen mehr Augenmerk zu schenken. Zwei Prinzipien sind dafür unabweisbar: richtig denken und verantwortlich handeln. Alle modischen Reformvorhaben, die diesen Prinzipien widersprechen, behindern die Schule in ihrem Auftrag. Die Gefahr ist nicht gering, dass der Neuigkeitswert mancher Modelle deren pädagogische Unvernunft oder gar Bildungsfeindlichkeit überdeckt. Eine Bildungspolitik ohne Grundsätze wird so zur leichten Beute pädagogischen Unfugs, der in manchen Schulen Einzug gehalten hat.

Damit wird eine der wichtigsten Fragen einer zu erwartenden Bildungspolitik zu beantworten sein, nämlich die Frage nach der Bildung und Ausbildung der Lehrer. Wie immer sie gestaltet ist: Eine Praxis ohne begründete Theorie, auch in Bezug auf den Zweck von Unterricht und Erziehung, macht den Lehrer zum unkritischen Vollzugsbeamten, zum kritiklosen Mitläufer. Wo eine Theorie auf philosophische Reflexion verzichtet, hat pädagogisches Ethos keine Chance, weil sie ihre Verbindlichkeit verliert, Verbindlichkeit für das Menschwerden des Menschen. Eine christlich orientierte Partei dürfte sich eine solche Lehrerbildung nicht leisten.

Der Autor ist emer. Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Wien.

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