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Sudie nach verlorenem Geist

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Man stellt fest, daß die — gegenüber dem letzten Mal um 1.63 Prozent — geringere Wahlbeteiligung bei den Hochschulwahlen 1961 auf Zurückweisungen infolge mangelhafter Ausweisleistung zurückzuführen sein dürfte und geht zur Tagesordnung über: keine entscheidenden Verschiebungen. Die Tatsache der an sich geringen Wahlbeteiligung von 67.77 Prozent bleibt aber bestehen, und es drängt sich die Frage auf, ob dieses Faktum wirklich mit einem Hinweis auf das nicht besonders entwickelte Interesse der Hochschüler an der studentischen Selbstverwaltung abgetan werden kann. Eine Umrechnung der von den wahlwerbenden Gruppen erzielten Prozentzahlen auf den Hundertsatz der Wahlberechtigung bringt folgendes Ergebnis:

Wahlblock 38.68 Prozent. Nichtwähler 32.23 Prozent, RFS 19.06 Prozent, VSSt. 9.26 Prozent,

VDS 0.77 Prozent.

Die Nichtwähler — als Gruppe gesehen — also an zweiter Stelle!

Ich lege im folgenden eine Untersuchung über den „repräsentativen“ Querschnitt des Schriftenmaterials, das dem Studenten vor diesen Wahlen ins Haus geflattert ist, vor und will versuchen, daran die Frage der Wahlbeteiligung mit ihrem doch irgendwie alarmierenden Prozentsatz zu interpretieren. Es handelt sich um folgende Schriften:

Zwei Nummern des „Studenten- Kurier“ (Organ der Österreichischen Hochschülerschaft, offiziell), eine Broschüre „stud. 61“ (Union Österreichischer Akademiker = Wahlblock), zwei Nummern der „Studenten-Post“ (Österreichischer Studentenverein, rechts), eine Nummer des „Ring“ (RFS), eine Nummer der „Neuen Generation“ (sozialistisch), zwei Nummern des „Gaudeamus“ (sozialistischer Ableger).

Allen diesen Blättern zufolge ging es in der Wahl um grundsätzliche Entscheidungen: „Es geht sehr wohl um eine Manifestation der österreichischen Studentenschaft, ihre Belange ernsthaft und in demokratischer Form zu diskutieren. .. Angesichts der Tatsache, daß junge Menschen, Studenten und Akademiker, nur wenige Kilometer östlich unserer Bundeshauptstadt für dieses demokratische Recht ihr Leben gelassen haben“ („Studenten-Kurier"). „Ein klares Bekenntnis zur Freiheit, eine Absage an die Reaktion, eine Verpflichtung für die Zukunft Wir rufen den denkenden Akademiker“

(„stud. 61“). „ damit das in Zukunft wirklich werde, wofür die freiheitlichen Studenten Österreichs stets eingetreten sind und eintreten werden: ein vereintes Europa als Bund freier und gleichberechtigter Nationen“ („Ring“). durch ihre Wahlent

scheidung an der Kultur- und Hochschulmisere mitschuldig zu sein“ („Neue Generation“).

Die angeschnittenen Fragen der Freiheit, der demokratischen Rechte, Europaidee, Kulturförderung gehören in gutem Sinn der politischen Sphäre an. Es sind Allgemeinfragen des öffentlichen Lebens, nicht so spezifisch studentisch, daß sie gerade als Slogans für Hochschulwahlen treffend sind. Für Studenten gewichtig sind die spezielleren Fragen der Lehr- und Lernfreiheit, der Interessenvertretung im Staat, Studentenaustausch und Ausländerstudium, Stipendienwesen und andere Belange des Hochschulwesens — von der Seite der Lehrenden wie der Lernenden — im Hinblick auf das Studium selbst und die spätere Berufsausbildung. Gerade hier haben Studentenzeitungen die Aufgabe der Information und Stellungnahme, da die Presse solche Fragen nur in größeren Zusammenhängen, unter allgemeineren Gesichtspunkten sieht.

Da die angeführten Fragen sehr verschieden zu qualifizieren sind, empfiehlt es sich, sie zu ordnen. Ich wähle ein Schema von vier Gruppen:

• Grundsatzfragen im Zusammenhang mit Weltanschauung und geistiger Orientierung.

• Hochschulfragen von grundsätzlicher Bedeutung.

• Organisationsfragen.

• Fragen der praktischen Durchführung.

Ideologisches Gemüse

Hier sollte behandelt werden, was man in der Politik als Ideologien zu bezeichnen pflegt, Programme, die geeignet wären, den geistigen Rahmen der einzelnen Gruppen abzustecken. In den vorliegenden Schriften ist hiezu in positivem Sinn so gut wie nichts gesagt. Was an allgemeinen Floskeln die Seiten schwärzt oder rötet, hat ein für angehende Akademiker beschämend tiefes Niveau. Was Grundsatz sein sollte, wird von allen Seiten zu schlagwortreicher Propaganda abgewertet, und zwar vielfach vom Negativen her: „Der Sozialismus ist geistig am Ende“ („stud. 61“). „Der RFS ist die Sammlung aller Nicht-Marxisten und Nicht- CVer auf Hochschulboden" („Ring“).

„Der Kadaver verlangt nach seinem Wasenmeister, der Wahlblock nach der Spitzhacke. 15 Jahre haben sich Österreichs Studenten an der Nase herumführen lassen“ („Neue Generation“). „Dem abgewirtschafteten Sozialismus (wer's nicht glaubt, benütze die Waldbrunner-Bahn).“ daß die

Sozialisten den Wahlkampf der Intelligenz und des Geistes scheuen“ („stud. 61“). Die Erwähnung von Waldbrunner ist nur ein Beispiel für die immer wieder auftauchende Verquickung der Hochschulwahlwerbung mit allgemeinen Fragen — eine allseits angewandte, sehr billige Methode.

Wer hingegen hat an die Grundsatzfrage gerührt, die bei der heutigen Spezialisierung gestellt werden muß: Nach dem Fachstudium im Ganzen einer Hochschulbildung, nach dem Studium generale oder universale als Basis des Fachwissens? Die einzige Erwähnung findet das Studium generale in

der „Neuen Generation“; man hält die Oberstufe der Mittelschulen, natürlich nach Neuordnung des Mittelschulwesens, und die Einführungsvorlesungen der einzelnen Fächer (nach Reform der Studienordnungen) für hinreichend, um „der drohenden Verprovinzialisie- rung unseres Geisteslebens Einhalt zu

gebieten“ („Gaudeamus“). Die Rechte hingegen hütet sich, an diesen Begriff, der den Erfolgshaschern so unsympathisch ist, zu streifen; das Wahlblockforderungsprogramm bringt keineswegs ein „absolutes Bekenntnis zur Universalität" („stud. 61“) zum Ausdruck und man sucht vergeblich darin nach einer Rechtfertigung der Behauptung, es enthalte „alle wesentlichen Elemente jener neuen Gesellschaft globalen Charakters, die als Überwindung der menschlichen Zersplitterung, als Absage vor allem an das Kasten- und Klassendenken zu werten ist“.

Über die Stellung des Akademikers in der Gesellschaft, d. h. im öffentlichen Leben, bringt der „Studenten- Kurier“ eine schmale Anregung zum Nachdenken, „stud. 61" formuliert „abgerundet“: „Im Zeitalter einer weithin zerrissenen Gesellschaft, in der die Existenz des Menschen von totalitären Kräften mannigfachster Schattierung in steigendem Maße bedroht wird, zählt allein das Prinzip der Selbsterhaltung zu den wesentlichsten Aufgaben.“

Beinahe-Debatten?

Es scheinen auf: Autonomie der Hochschulen (ohne Auseinandersetzung); Studienförderungsgesetz und Frage des Rechtsanspruches auf Stipendien. Hier findet beinahe eine Debatte statt; aber: es wird nur sehr am Rand zu den Grundsätzen einer solchen Regelung Stellung genommen; da scheint schon alles abgesprochen, man ist dafür, ohne irgendwelche Bedenken zu äußern; denn das zieht bei der Wahl. Und die Beinahe-Debatte geht darum, wer diese Forderung zuerst gestellt hat. Die Frage wird zu einer ökonomischen, die Auseinandersetzung zu einer propagandistischen. Daß die Stipendienverleihung an die raschestmögliche Absolvierung der vorgeschriebenen Studienbedingungen eines Faches mit guten Prüfungserfolgen gebunden wird, greift aber hart an den Grundsatz der

Leistung und Phrase

Hier scheiden sich die Geister; denn hier geht es um das, was man einer großen amorphen Wählermenge an den Kopf werfen kann. Siehe da: Der offizielle „Studenten-Kurier“: verhüllt nur mit einem Minimum an Scham die fast nackte Wahlblockpropaganda seiner ÖH-Leistungsberichte, wenn auch dazu ermuntert durch die Tatsache, daß der Wahlblock in der ÖH die absolute Mehrheit besitzt und daher für die Leistungen verantwortlich zeichnet. Bau von Studentenheimen, Zimmervermittlung, Mensenausbau, Krankenhilfe, kulturelle Leistungen, sportliche Erfolge (sind Rekorde und Meistertitel

Lehr- und Lernfreiheit. Das Recht des Studenten, bei einzelnen Fragen seines Faches oder angrenzender Fächer länger zu verweilen — und gerade dieses Verweilen, das Vertiefen bedeutet, müßte die akademische Ausbildung gegenüber anderer Ausbildung kennzeichnen —, kann in der Folge nur noch mit schweren finanziellen Nachteilen erworben werden. Nur im „stud. 61“ taucht hinter der lautstark erhobenen Forderung etwas wie eine Warnung vor den Folgen auf.

Erwähnt wird ferner die Studienreform und der Ausbau der Hochschulen. „Neue Generation“ beschäftigt sich mit der Teilfrage der Hochschule für Sozialwissenschaft ausführlich und anregend; eine Eintagsfliege. Die Besserstellung der fertigen Akademiker ist wieder nur unter praktischwirtschaftlichen Aspekten gesehen. („Abwanderung von hochqualifizierten Kräften ins Ausland zum Schaden der österreichischen Volkswirtschaft" — „stud. 61“).

Zum Ausländerstudium wird die Attraktivität Österreichs festgestellt und von der Gründung einer Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung ausländischer Kollegen berichtet; „die führende Intelligenz des sogenannten neutralen Blocks“ blickt „mit immer größerem Interesse auf die neutralen Staaten Europas“ („Studenten-Kurier“). Das Positive an solchen Aktionen und die Vorlage von Anekdoten aus dem Ausländerreferat der Österreichischen Hochschülerschaft können jedoch nicht übersehen lassen, daß zahlreiche Ausländer mit mangelhaften Deutschkenntnissen einheimischen Studenten Arbeitsplätze wegnehmen; davon ist im Forderungsprogramm des Wahlblocks und im „Ring" kurz die Rede. Bezeichnend die heitere Erzählung vom deutschen Kollegen, der bei der Österreichischen Hochschülerschaft billige Opernstehplätze bezieht und mit dem ersparten Geld — zum Nachmahl ins Coque d'or geht („Studenten-Kurier“).

RFS prunkt mit seinen Leistungen an der Technischen Hochschule Graz mit peinlich-geschmackloser Anti-CV- Karikatur, die außerdem schlecht ist, auf der Titelseite, und zeigt tadelnswerte Versäumnisse des Wahlblocks auf („Ring“). Die Kollegen von links glossieren mitleidlos alle Mißstände (z. B. Testatwesen) und lassen durchblicken, wieviel besser sie alles lenken würden (mit einem roten Unterrichtsminister, versteht sich). Man darf unvoreingenommen feststellen, daß, von Entgleisungen aller Seiten abgesehen, die Linke spritziger schreibt und daher amüsanter zu lesen ist, als die hochgestochene Rechte und der gestikulierende „Ring“. („Wir wollen studieren und nicht schon auf der Hochschule zu Schachfiguren der Parteipolitik degradiert Werden!“)

wirklich Hauptziele des Studentensports?), das Stipendienwesen von der praktischen Seite, Reisedienst werden in buntem Reigen vorgeführt. Der Ton ist freilich nicht immer der eines „offiziellen“ Blattes:. „Derselbe Vizekanzler, der mit seinen Freunden und Genossen sehr wohl zu feiern versteht“; die

dem verehrten Herrn Vizekanzler nahestehende studentische Fraktion weiß seit Jahr und Tag nichts anderes zu tun, als.., zu kritisieren."

Was der „Studenten-Kurier“ in Zahlen ausdrückt, bringt „stud. 61“ in Phrasen (Beispiele wurden mehrfach zitiert). Die „Studenten-Post“ ist seriösinformativ, ohne ihre Rechtsstellung zu verleugnen, kann sich aber auch nicht ganz von Parolen freimachen: „Die Demokratie erfordert die unbedingte Anerkennung des Stimmzettels“ (schon einmal von persönlicher Gewissensentscheidung und passiver Resistenz gehört?).

Pläne und Feuilletons

Jede Seite legt einige ausgewählte Pläne vor: Studentenstadt, Studentenheime, soziale Verbesserungen usw. — je nach der Größe der Pläne mehr oder weniger konkret.

Der verbleibende Raum wird mit Feuilletonistischem gefüllt, politisch gefärbt — „stud. 61“ Südtirol, „Neue Generation“ Algerien — oder allgemein: Film, Bücher, Damenmode, Jazz. Besonders kindisch sind leider die Plaudereien für Kolleginnen („Studenten- Kurier"): „ sooo tüchtigen Herren der Schöpfung“, ein Ball, „für jeden Mann ein undefinierbares Gemisch aus zu engem Frackhemd, zu teurem Sekt, zu dicken Professorentöchtern“ usw.). „Neue Generation“ stellt Herzmanov- eky-Orlando vor (mit einer Spitze gegen die Macht der Idee), „Studenten- Kurier“ junge österreichische Autoren. Und dann die Glossen zum Aktuellen: „stud. 61“ schießt den Vizekanzler wegen schlechter Rechtschreibung an, weil seine Sekretärin einen Brief mit drei Tippfehlern unkorrigiert abschickte. Der „Studenten-Kurier“ wendet sich mit Recht gegen die Titulierung des Zentralausschusses der ÖH als „Parteistelle“ und „sogenannt“ durch den Vizekanzler, aber ein Leserbrief im gleichen Blatt mit „Funny Bruno“ geht zu weit. Die Sozialisten geben sich mit „CVer vom Dienst am Minoritenplatz" und „Wahlblockbuben" nicht zurückhaltender („Neue Generation“) und werden gegen Kollegen von der anderen Seite ausgesprochen persönlich („ Gelegenheiten, wie sie die Gunst der kleinen Wahlblocksekretärin Irene erringen könnten“), was die demagogische Grundlinie im Bild der Unfairneß ebenso klar macht wie das nur verschwommen adressierte Gerede der „Wahlblock“- und RFS-Leute. Allen Parteien aber passiert es, daß sie mit

butterbeschmiertem Kopf an die Sonne treten, unter die sie die ebenso butterbeschmierten Gegner gezerrt haben, und es stört die diversen Herausgeber offenbar nicht, wenn in einer Zeitschrift gegensätzliche Meinungen vertreten werden.

Prüfen wir jetzt den gewonnenen Eindruck und halten die Tatsache der geringen Wahlbeteiligung entgegen. Stellen wir uns den Empfänger der untersuchten Schriften vor, wie er mit Aufmerksamkeit geistige Ansprache sucht und mit steigender Enttäuschung, die durch ein gelegentliches Schmunzeln nicht weggewischt werden kann, die freudlose Lektüre ergebnislos zu Ende führt. Mehrmals Enttäuschte sind unter den Lesern, Empörte, vor ihren mit Idealen vollen Kopf gestoßene „Neulinge“, die zu keiner Entscheidung finden, weil das, was man ihnen vorlegt, keine Entscheidung verlangt; aber auch Kühle sind dabei, von den praktischen Fragen nicht unmittelbar Berührte, die sich nur durch eine scharfe geistige Auseinandersetzung vielleicht aktivieren ließen. (Als Teilbeweis könnte die wesentlich höhere Wahlbeteiligung von 82 Prozent bei

den Wahlen 1946 herangezogen werden.) Sie alle zusammen bilden, unter Vernachlässigung der wirklich Lauen oder aus praktischen Gründen Nichtwählenden, die zweitstärkste Gruppe der österreichischen Studenten. Sind sie verantwortungslos, weil sie nicht zur Wahlurne gehen? Fordert denn eines der vorgelegten Programme zum Bekenntnis auf? Wen trifft die Verantwortung für den stummen Protest, der in der Nichtausübung eines demokratischen Rechtes zumindest mit zum Ausdruck kommt?

32.23 Prozent Abseitsstehende retten in meinen Augen — bewußt oder unbewußt — einer Flut von Propaganda gegenüber den Ruf der Hochschule als Bollwerk des Geistes. Sie zu gewinnen, ist keine Frage des größeren Mundwerkes und der besseren Witze, und auch nicht der praktischen Leistungen. Sie reagieren nicht auf die plakatierten Warnungen: „Laß dich nicht einfangen“ (Wahlblock). „Laß dich nicht verwirren“ RES). „Geh nicht auf den Leim“ (VSSt.) — oder wenn man will: sie halten sich wörtlich daran. Insgeheim aber hoffen sie vielleicht auf den positiven Anruf des Geistes!

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