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Tagesschulheime

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Der größte Teil unserer Jugendlichen befindet sich heute in ungünstiger sozialer Lage. Nach verläßlichen Feststellungen gibt es derzeit in Österreich 116.000 Vater-, 17.000 Mutter- und 7000 Vollwaisen im Pflichtschulalter. An unseren B u n d e s m i 11 e 1 s c h u 1 e n ist jedes siebente Kind Kriegswaise oder heimatvertrieben. In sehr vielen dieser Fälle ist die geordnete Familienerziehung gefährdet, wenn nicht ausgeschlossen. Zahlreiche Mütter sind zu Familienerhaltern geworden, gezwungen, einem Erwerb nachzugehen, da der Gatte fehlt oder sein Verdienst nicht ausreicht, um den gesamten Familienunterhalt zu decken. Ein Großteil der Familien hat infolge des Krieges schwere materielle Einbußen erlitten — einen Substanzverlust, der durch den Arbeitseinsatz eines Familienmitgliedes nicht aufgeholt werden kann. Vielfach sind auch die Wohnungsverhältnisse völlig unzureichend. In jeder Schulklasse finden sich Kinder von ausgebombten Familien oder von Flüchtlingen, denen daheim nirgends ein ruhiges Plätzchen gehört.

Schlimmer noch als die materiellen sind die moralischen und psychischen Wunden, die die Zeit geschlagen hat. Immer wieder öffnen sich dem Lehrer erschreckende Einblicke in die Umwelt der Schüler: Familien sind zerbrochen, in denen weder Vater noch Mutter ihrer Erziehungsaufgabe gerecht werden oder jüngere Geschwister dem ungünstigen Einfluß schon „erwachsener“ ausgesetzt sind. Dazu als trauriges Erbe des Krieges Nervosität und Hast so mancher Eltern, die eine geduldige zielbewußte Erziehungsarbeit kaum aufkommen lassen. Kein Wunder, daß sich bei den Kindern Konzentrationsmangel, Unstetigkeit und rasche Ermüdung feststellen lassen.

Die Erkenntnis, daß alle hier auftretenden Probleme von der Schule aus in Verbindung mit der Elternschaft gelöst werden müssen, drängte zu einer Hilfseinrichtung für die Familienerziehung im Räume der Schule, die aber keineswegs das Kind der Familie entziehen soll.

Der Plan des Tagesschulheimes entstand, daß im Einvernehmen mit dem Elternhaus dem Kinde im Schulhaus ein Erholungs- und Erziehungsplatz geboten werden soll. Die Durchführung ist bisher der Privatinitiative des Elternvereines jeder Schule überlassen, der auch die Finanzierung des Werkes zu tragen hat. Die pädagogische Leitung obliegt selbstverständlich der Leitung der betreffenden Schule.

Das Kind bleibt den ganzen Tag, von 8 bis 18 Uhr, im Schulhaus. Das Mittagessen nehmen die Kinder entweder zu Hause ein oder die Schule sorgt für andere Möglichkeiten. Um 14 Uhr beginnt die Lernarbeit in Gruppen von 20 bis 25 Teilnehmern, womöglich gleicher Altersstufe, unter Leitung eines Erziehers. Die Erziehung zur selbsttätigen Arbeit mit ökonomischer Ausnützung der Zeit soll gefördert werden. Der Erzieher wird sorgsame individuelle Beobachtung leisten müssen, um das einzelne Kind zum richtigen Lernen zu führen. Man wird trachten, die Schüler in natürlichen Interessegruppen zusammenzufassen und ihnen die Möglichkeit bieten, ihre Neigungen zu einem bestimmten Fachgebiet zu finden und zu vertiefen. Doch soll die Einrichtung nicht etwas wie ein verlängerter Arm des Lehrers sein, etwa um unerledigte Stoffgebiete nun am Nachmittag an die Schüler heranzubringen. Wohl aber wird das Heim auch für den Lehrer ein größeres Beobachtungsfeld für seine eigene Arbeit vermitteln: er wird viele Gelegenheiten haben, das individuelle Wesen des Schülers, seine Persönlichkeit in ihrer Ganzheit zu erfassen, er wird seine Aufnahmefähigkeit und au,ch seine physischen und psychischen Hemmungen bei der Arbeit kennenlernen. In der nach der Lernstunde folgenden Freizeit wird das Verhalten des Kindes beim Spiel, seine Einsatzfreudigkeit, sein soziales Verhalten, seine Begabungen erkennen lassen, um Eindrücke zu sammeln, die Voraussetzungen sind, auf denen die moderne Pädagogik in der Schule aufzubauen hat. Für die Freizeit soll der Schüler die Möglichkeit besitzen, sie nach seinen WünschenundVeranlagungen zu gestalten. Zweifellos erwächst hier den Erziehern die schönste und zugleich schwierigste Arbeit: die richtige Mitte zu wählen, die Eigenart der jugendlichen Persönlichkeit aus sich selbst und durch unbewußte Führung zur Entfaltung zu bringen. Hier gilt es, Begabungen und Neigungen zu fördern, zu beobachten und zu lenken, vor allem aber, dem jungen Menschen das Erlebnis einerselbstgeführtenJugend-gemeinschaft zu vermitteln. Ihm das Verständnis für die Volksgemeinschaft und ihre Pflichten zu erschließen, ist letzte Zielsetzung. Diskussionsabende, Aufrechterhaltung eines möglichst regen Briefwechsels mit den Schülern anderer Länder, Beschäftigung mit aktuellen Problemen und Jugendfragen werden zur praktischen Verwirklichung dieses Gedankens beitragen.

Der Besuch des Tagesschulheimes ist freiwillig, doch werden die mit den Eltern vereinbarten Besuchstage eines Schülers einzuhalten sein.

Das Tagesschulheim wird die Familie entlasten, aber genügend Zeit für das notwendige Zusammenleben im Familienkreis übriglassen. Ein Tagesschulheim wird drei bis fünf stellenlosen jungen Mittelschullehrern Beschäftigung bieten.

Aus der Notwendigkeit schwieriger Zeitumstände geschaffen, verspricht die neue Einrichtung Wegbereiter zu sein für eine richtig verstandene österreichische Erziehungsschule. Sie wurde auf Anregung des Bundesministeriums für Unterricht im Bundesrealgymnasium für Mädchen und Frauenoberschule, Wien XVII, erstmalig und erfolgreich ins Leben gerufen. In Elternkreisen der Großstadt hat diese Initiative ein erfreulich starkes Interesse gefunden.

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