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Digital In Arbeit

Uber den Tod der Neugier

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Etwas ist an unserem System faul: Immer weniger Bürger sind bereit sich ernsthaft mit Information auseinanderzusetzen.

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Etwas ist an unserem System faul: Immer weniger Bürger sind bereit sich ernsthaft mit Information auseinanderzusetzen.

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Mit viel Selbstzufriedenheit haben wir 1989 festgestellt, daß der Zusammenbruch von Sowjetmacht und Planwirtschaft ja so kommen mußte, denn nur Demokratie und Marktwirtschaft sind in der Lage, die verschiedensten Anliegen der Menschen so zu bündeln, daß die jeweils richtigen Entscheidungen fallen. Voller Stolz über unser hehres Menschenbild dozierten wir: „Richtig" ist diejenige Entscheidung, die sich im freien Wettbewerb durchsetzt, wobei man bei allen Mitbewerbern voraussetzen kann, daß sie ihre einzelnen Entscheidungen in „vernünftiger" Weise treffen. Und „vernünftig" heißt, daß die Entscheidung nach Überprüfung aller relevanten Informationen vorgenommen wird.

Genau hier steckt der Wurm, denn die Informationen liegen ja alle auf dem Tisch. Offenbar ist uns aber die Lust abhanden gekommen, die Informationen auch aufzunehmen. Was fehlt, ist ganz einfach das erforderliche Maß an Neugier. Letztere ist bis in die jüngste Geschichte hinein als Bestandteil der Menschennatur ganz einfach vorausgesetzt worden Die Neugier kommt uns abhanden, weil sie - wohl erstmals in der Menschheitsgeschichte - in der Flut der täglich über uns hereinstürzenden Informationen regelrecht ersäuft wird. Sicher, die Informationen, die wir aktiv suchen, finden und verwerten wir rasch und effizient. Aber dies ist für eine demokratische Gesellschaft nicht genug, denn außerhalb des engen Spektrums unserer Interessen verhalten wir uns zunehmend apathisch und schotten uns sogar ab. In diesem Prozeß der Informationsverweigerung hat sich auch eine gewisse Mechanik eingespielt, die bestimmten Mustern folgt:

■ Vorrang für das Bekannte: In der uferlosen Fülle der Informationen sucht man nach Bekanntem. Das Stereotyp wird daher leichter aufgenommen als das Neue, unsere Vorurteile scheinen somit immer wieder ihre Bestätigung zu finden. Wirkung: Flexibilität kommt abhanden.

■ Negativ sticht Positiv: Schlechte Nachrichten erreichen uns leichter als gute. Wirkung: Das Geschäft mit der Angst ist einträglicher als Gewinn durch Freude.

■ Information bleibt unverdaut: Die Neugier als Energiequelle des gesamten Erkenntnisprozesses erschöpft sich zunehmend in dessen erstem Teil, dem Wahrnehmen; zu kurz kommt dabei der zweite Teil dieses Prozesses, nämlich das Deuten im Sinne des Einordnens der Information in das Bewußtsein, und erst recht der manchmal durch neue Informationen erforderlich werdende dritte Teil im Sinne einer mit einem halblauten „Aha" quittierten Reorganisation gedanklicher lünstellun-gen. Wirkung: Verzicht auf das Ausräumen von Unvereinbarkeiten in unserem Bewußtsein, Ausweichen vor Entscheidungen und häufigere Fehlentscheidungen. ■ Information braucht Ballast: Neugier erschöpft sich nicht nur durch die Quantität der Informationen, sondern auch durch Mängel in deren Präsentation. Abstrakte Information ist nicht genug, offenbar benötigt sie auch ein gewisses „Etwas", das uns auch gefühlsmäßig von der Wahrheit und der Bedeutung der Information überzeugt. Hier dürfte ein ähnliches Phänomen wie bei der Ernährung vorliegen; auch protein-reiche Nahrung braucht die vordergründig nutzlosen Ballaststoffe. Wirkung: Bei Informationsaufnahme über Funk- und Printmedien bekommen wir nun meist nicht genug von diesen Ballaststoffen mit. Dies gilt letztlich auch für die scheinbar so realitätsnahen Informationen, die uns über das Fernsehen erreichen: Man bekommt zwar vordergründig den Eindruck der Authentizität („Man ist dabei"), das „nicht über den Bildrand hinaus sehen können" und die extreme Kürze der Bildberichte bei den Nachrichten

(„wie geht es weiter") weckt jedoch - mehr als bei Printmedien - den Eindruck der Teil-Wahrheit, wenn nicht gar der Manipulation. ■ Lokales hat Vorrang: Die ohne Medien direkt aufgenommenen Informationen genießen Vorrang. Fast so durchschlagkräftig sind Mediennachrichten aus der nächsten Umgebung. Wirkung: Selbstisolation durch immer stärkere Trennung zwischen der „eigenen kleinen Welt" und dem „Rest der Welt".

Mit diesen Mustern finden zahlreiche Phänomene der Gegenwart ihre Erklärung: Ganz leicht geht dies mit Politikverdrossenheit - als Produkt von Muster eins und zwei - auf der einen Seite, und dem regen Zuspruch für Bürgerinitiativen (Muster fünf) auf der anderen.

Produkt dieser Muster ist aber auch die zunehmende Schwäche bei der Erfassung von Problemen in ihrer Gesamtheit: Die Information über positive Aspekte wird aus Kapazitätsgründen nicht mehr angenommen, die negativen kommen an, folglich wird zu dem Problem eine insgesamt ablehnende Haltung eingenommen (etwa „Österreichs Beitritt zur EG ist abzulehnen, weil es dann Teilen der Tabak-Trafikanten schlechter gehen könnte").

In der Medienwelt hat man ja diese Phänomene zumindest intuitiv bereits erfaßt: Wenn der „anchor-man" bei der Präsentation der Fern-sehnachrichten mit allerlei Witzchen seine persönliche Note abgibt, so produziert er den erforderlichen „Ballast"; ähnlich auch die Praxis der Boulevard-Blätter, einen Persönlichkeitskult um die Verfasser „ständiger Beiträge" zu entfalten; es soll damit überdies auch das Surrogat einer Stammtischrunde geschaffen werden, womit Muster fünf entsprochen wird. Auch die Tierschutzecke in diesen Blättern und die all-fern-seh-abendliche positive Belanglosigkeit am Schluß der Nachrichten paßt ins Bild: Die Errettung eines Eichkatzerls durch die Feuerwehr ist der notwendige Ausgleich für den vorangehenden Schocker um die massakrierten Frauen und verhungernden Kinder.

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