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Um die Einheit unserer Mittelschule

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Ein neues Schulgesetz ist fällig in Österreich. Der Nationalrat wird sich bald damit zu befassen haben. Es wird nicht ohne Kampf zustande kommen. Den Äußerungen in den Fachzeitschriften und den Gegensätzen nach in den Schulprogrammen der politischen Parteien wird einer der Hauptgegenstände der Diskussion die Gestaltung der Mittelschulen sein.

Und dazu möchte auch ich mein Wort vorbringen. Nicht um etwas Neues zu sagen, aber um das Meine beizutragen zur Erhaltung unserer alten, wenn auch mit der Zeit, wie billig, sich wandelnden österreichischen Mittelschulen.

Da aber muß zuerst Klarheit geschaffen werden gleich bei dem Namen „Mittelschule“ selbst. Es ist ein Kreuz jetzt mit der Sprache: jedes Wort kann einem noch im Munde umgedreht werden. So geschah es mit der „Freiheit“ und der „Demokratie“, so geschieht es mit der „Mittelschule“ und ihrer „Einheit“. Die Gegner unserer Mittelschulen können lächelnd sagen, um die „Einheit der Mittelschule“ gehe es ja gerade ihnen, nur eben in ihrem Sinne.

Die Mittelschulen, die w i r meinen — und wir „meinen" sie auch in dem wärmeren Ton, in dem jener Dichter die ,,Freiheit" meinte —, sind die mittleren Schulen z w i- schen Volks- u rfd Hochschulen, zwischen dem 11. und 18. Lebensjahr (vorläufig). Also Gymnasium, Real

Viktor Buchgraber schule oder Realgymnasium, das heißt Schulen, die nicht unmittelbar auf einen Beruf vorbereiten wie die Lehrerbildungsanstalten, Handelsakademien oder Gewerbeschulen (die man, da sie dem Alter nach der Oberstufe der Mittelschulen entsprechen, „höhere Berufsschulen“ nennen könnte), sondern eine höhere allgemeine Bildung vermitteln, jenes Wissen, jene Denkschulung und Gesinnung, die Voraussetzung sind nicht nur für das wissenschaftliche Studium und die akademischen Berufe, sondern für die geistige Führung überhaupt.

Diese Mittelschulen sollen nun nach dem sozialistischen (und kommunistischen) Schulprogramm — leider ist das Parteisache geworden — zerspalten und damit zerstört werden. Ihre Unterstufe, die ersten vier Klassen, soll mit den Hauptschulen zusammengetan werden, und die Schule dieser Alterstufe soll dann „Allgemeine“ oder „Einheits-Mittelschule“ heißen, nun mehr in dem Sinne einer Mitte zwischen der Volks- oder, wie man lieber sagt, „Grundschule" und den „Höheren Schulen“ (vom 15. bis zum 18. Lebensjahr), unter denen dann sich auch die Oberstufen unserer jetzigen Mittelschulen als „Oberschulen“ befänden.

Hier geht es um die horizontale „Einheit“ der Ausbildung aller Kinder vom 11. bis zum 14. Jahr. Uns geht es um die vertikale Einheit der Ausbildung einer Auslese vom 11. bis zum 18. Jahr.

Man kann sich denken, welch kümmerliches Dasein jene „Oberschule“, oder wie sie sonst hieße, zwischen den sich ausweitenden und mit Recht geforderten „Höheren Fachschulen" aller Art würde fristen müssen, zumal wenn diese Fachschulen irmner mehr die Berechtigung, di sie anstreben, zum Besuch der fachlichen Hochschulen und schließlich auch der Universitäten erlangen sollten.

Soll man nun diesen Dingen ihren Lauf lassen? Soll man zuschauen, wie die alten Mittelschulen, denen das 19. und 20. Jahrhundert ihre geistige Form verdanken, die der gewaltigen Entfaltung der Natur- und Geisteswissenschaften die Grundlagen geboten haben, versinken?

Was sich ausgelebt hat, möge zerfallen.1 Was überholt ist, soll nicht aus irgendwelchen Sentimentalitäten künstlich gestützt werden. Die allgemein-bildende Mittelschule ist aber nicht überholt oder ausgelebt. S i e hat im Gegenteil eine neue A u f- gabe. Im 19. Jahrhundert war sie der Stolz de Bürgertums, die Freistätte, die dieses dem geschäftlich ungebundenen, zweckfreien Geist schuf, so wie der Adel des Mittelalters mit Achtung dem Geiste seiner Zeit die Klosterschulen zugestand. Die neue Gesellschaft, die sich im 20. Jahrhundert gebildet hat — ob äußerlich in mehr privatwirtschaftlichen oder mehr gemeinwirtschaftlichen Formen —, diese neue Gesellschaft würde sich nun selbst wieder eine Freistätte des geschäftlich-beruflich ungebundenen Geistes für eine Auslese ihrer Jugend schaffen und würde wieder in irgendeiner Form dazu das zweite Lebensjahrzehnt ausersehen, acht bis neun, nicht bloß vier Jahre, wenn eine Generation so unbesonnen sein sollte, die bestehende Freistätte zu zerstören — und würde so die alte europäische Tradition wieder herstellen, die Tradition des humanen Geistes, inmitten ihrer verfachlichten, technisierten und bürokratisierten Welt. Hier ist die Zukunftsaufgabe der Mittelschulen in einer Gesellschaft, in der der Professor nicht mehr das Ansehen hat, das er im Bürgertum des 19. Jahrhunderts genoß.

Zur Bildung dieses humanen Geistes gehört jetzt für uns Europäer die geistige und seelische Schulung sowohl durch Sprache, Kunst und Geschichte, wie durch Mathematik und Naturwissenschaften — nie durch eines dieser Elemente allein, wenn auch das Schwergewicht bald mehr auf dieser, bald mehr auf jener Seite liegen mag. Eš gehört dazu der Zusammenhang mit der eigenen Vergangenheit, zurück bis zur Antike, wie der mit der Welt um uns. mit den anderen Kulturen. (Das Problem der religiösen Bildung verdiente eine besondere Darstellung …)

Würde man zur Beruhigung der besorgten, um dem Geist besorgten Gemüter nun sagen, die um ihren Unterbau gebrachte alte Mittelschule habe ja doch noch ihre Existenzbasis, sie : sei noch immer die eigentliche Vorstufe für die Fakultäten der Universität und selbst für die meisten anderen Hochschulen — daß sie in ihrer neuen Form der alten Aufgabe, jener höheren allseitigen Bildung, gerecht werden könnte, ließe sich doch kaum mehr behaupten. Es ist nicht dasselbe, ob ein Schüler aus der vierten Hauptschulklasse in die 5. Klasse der Mittelschule übertritt oder von seinem zehnten Lebensjahr an schon im Geiste der Mittelschule unterrichtet und erzogen worden ist.

Die Mittelschule hatte seit jeher das Recht der Auslese. Es wird nur ein geringer Teil der Jugend des entsprechenden Alters in sie .aufgenommen, schon für sie bestimmt — die Lehrer der Volksschulen wissen da in der Regel sehr gut Bescheid. Und an diese Schüler werden von Anfang an höhere Anforderungen . gestellt, an ihre Auffassungskraft wie an ihre Arbeitsbereitschaft. Und das ist gut so. Diese leisTVngs,- fähigeren Schüler würden unter einer Menge von weniger begabten oder auch anders eingestellten Schülern (wie in den Hauptschulklassen) zu wenig in Anspruch genommen. Und das wäre schlecht für den Geist, so wie es schlecht ist für den Magen: sie blieben geistig unterernährt. — Auf der Unterstufe der Mittelschule alten Stils kann zudem, ganz anders als in Hauptschul--. klassen, sehr viel von dem, was auf der Oberstufe ausgebildet werden soll, schon vorbereitet werden; und in einem Alter, das zum mechanischen Lernen viel geeigneter ist als die Pubertätsjahre. Das gilt für alle Fächer, nicht nur für Mathematik oder die Sprachen, T- Und man tritt in diesen Klassen von vornherein an die Gegenstände unter dem besonderen Gesichtspunkte der Mittelschulen heran, unter dem ihres Ziels: jener höheren freien Allgemeinbildung. Ohne eine cjerartige Vorschulung wäre auch, das muß man sich gesagt sein lassen, e’ne einigermaßen' zureichende Ausbildung, besonders in den Sprachen, den antiken wie den modernen, nicht zu erreichen.

Die Hauptschule dagegen — und dann ebenso die „Allgemeine Mittelschule“ — haben ein anderes Bildungsziel: auch Allgemein- und nicht Fachbildung, aber in einem Ausmaß, wie es für das praktische Leben des Arbeiters, des Bauers, des Gewerbetreibenden, dos niederen Beamten, oder zur weiteren Ausbildung in Lehrer- WduAgsöistaJterLJiHatidels- und technischen Fffdischalemi genügt o Sie - wird izuderru leinen anderen Charakter auf dem Land, einen anderen in der Stadt haben müssen

' Die „EinÄeitsmittelschulen“ sollen freilich „den Verschiedenen Begabungen angepaßte Differenzierurigseinfiėfitiingėh“ bekommen, wie es im Antrag an den Nationalrat heißt. Den Leistungsfähigeren wird ja schon jetzt an der Hauptschule, wenn es geht, ein besonderer Klassenzüg reserviert. Aber ein solcher „Klassenzug Ä“ ist noch immer nicht derselben Klasse einer Mittelschule gleichzusetzen. Er umfaßt riofh immer viele Schüler, die — seien wir doch aufrichtig, die Lehrer und die Eltern wissen es auch ganz gut — den Ansprüchen der Mittelschule n i c h t gewachsen wären. Und diese ersten Klassenzüge haben zudem noch die andere Bildungsaufgabe, eben der Hauptschule. — Wollte man aber aus Solchen Klassenzügen mehrerer Schulen eine neue Auslese zusammenstellen, die nun dem Niveau der alten Mittelschulen entspräche: wozu dann überhaupt die Abtrennung der Unterstufe von diesen alten Mittelschulen?

Nur 'dem Schema zuliebe? Weil in der horizontalen Schichtung der Schulen nach den Altersstufen (nach jedem vierten Jahr eine neue Schichte) die Vertikale der alten Hauptschule, die über zwei solcher Schichten sich erstreckt, wie ein Freimdkörper wirke? Wie eine Ausnahme? Soll man um eines glatteren Aspekts (aus „optischen“ Gründen, wie man jetzt sagt) wirklich etwas geistig Lebendiges, Notwendiges, Zukunftstüchtiges opfern? Soll man die Ausnahme nicht gelten lassen, wo sie Sinn hät als Auslese?

Ein. anderer Grund wird mehr nach voęn geschoben: die Zeit der Berufswahl. Man könne nicht für zehnjährige Kinder schon entscheiden, was sie werden sollten. Das braucht man aber gar nicht, auch jetzt

Dazu, wie überhaupt zur ganzen Schulfrage, Hat Ministerialrat Dr. J. Lehr! sehr wertvolle Bemerkungen in der Beilage 6 zum Verordnungsblatt des Unterrichtsministerium, 1947, gemacht.

nicht. — Die Begabtenauslese dürfte nie zugleich Berufsbestimmüng werden. Es sollen auch nicht alle Begabten zwangsmäßig in die Mittelschulen übergeleitet werden.

Unter den gegenwärtigen Verhältnissen können noch die Dreizehnjährigen zwischen den Typen der Mittelschulen wählen und grundsätzlich bleibt ein Wechsel der Typen auch später noch zulässig. Der Abgänger der vierten Mittelschulklassen hat dann erst recht alle Wege offen. Der Hauptschüler umgekehrt kann, wenn er den Kopf und den Willen dazu hat, sich auf die neuen Anforderungen umzustellen, in jede Klasse der Mittelschulen bis zur fünften übertreten, und ich kenne beides aus langer Erfahrung: sehr guten Erfolg und gänzliches Mißlingen.

Hinter diesen Argumenten scheint freilich noch ein (allerdings' veraltetes) Klassenvorurteil zu stedeen. Man ist del Mittelschule gram als einer Standes-, als einer Privilegiertenschule, in die das wohlhabende Bürger- und das höhere Beamtentum seine Söhne und Töchter schicke, um sie im alten Kastengeist erziehen zu lassen. Das ist aber doch schon lang nicht mehr wahr. Schon die Statistiken fügen sich dieser Verdächtigung nicht mehr. Und jeder Bauern- und Arbeitersohn, der durch eine dieser Schulen gegangen ist, wird das GegAteil bezeugen. (In den Statistiken freilich figurieren die Söhne oder' Töchter dieser Bauern- und Arbeitersöhne schon als Beamten- und Akademikerkinder und gehören zur höheren „Kaste“ — einer Kaste, die sich ständig von unten ergänzt!)

Es hat sich eben das „Bürgertum“ selbst und das bürgerlich gesinnte Beamtentum unterdessen — das spricht sich ja auch schon herum — in die neue Gesellschaft aufgelöst, die noch keinen Namen hat (die Namen gibt erst die Nachwelt), die jedenfalls nicht die „proletarische" des konsequenten Marxismus ist. Bürger und Beamter, Arbeiter und Bauer sind in ihr ebenbürtige Glieder. Aus dem proletarischen Dasein hat sich die Arbeiterschaft — das war die große Leistung ihres Klassenkampfes — in Europa selbst befreit. Und umgekehrt: die Bezüge auch der höheren Beamten stehen zur Zeit oft genug — in Europa wie in Amerika — unter denen der besser qualifizierten Arbeiter, und sie werden sie vielleicht nie mehr allzusehr übersteigen. Mittelschulen und Hochschulen sind so dem Arbeiterkind auch finanziell nicht schwerer zugänglich als den Kindern anderer Stände. Die Abschaffung des Schulgeldes wird ein übriges tun. Faktisch spielt es ja schon jetzt kaum mehr eine Rolle.

’ Es spricht also nichts wirklich gegen die vertikale Einheit der alten österreichischen Mittelschulen, der Gymnasien, Realschulen, Realgymnasien, wohl aber sehr viel dafür. Und es spricht manches gegen die. horizontale Einheit der anderen „Mittelschule“, das heißt der auf alle Kinder zwischen elf und vierzehn Jahren zwangsmäßig erweiterten Hauptschule und wenn sie noch so differenziert wird.

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