"… und drin bist du"

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Selektion oder Integration? Bildungsexperten diskutieren über neue Bildungsmodelle ohne soziale Auslese.

Früher einmal sprach man "vom Ernst des Lebens", wenn ein Kind in die Schule kam. Darauf folgte die Rede vom Spaß, den das Lernen mache bzw. machen sollte. Dann wurde es wieder Ernst, als man die durch das Schulsystem bedingte Sozialauslese in Österreich und Deutschland öffentlich benannte und Reformen forderte. Noch immer ist in beiden Ländern die soziale Herkunft der Schüler und Schülerinnen die bestimmende Koordinate des weiteren Bildungsweges.

"Ene, mene, muh und raus bist du! - wir haben diesen Abzählreim auch in Finnland", stellt der finnische Bildungsexperte Jorma Lempinen beim Blick auf den gleichnamigen Tagungsprospekt über "Schule zwischen Förderung und Selektion" fest. Die Veranstaltung fand kürzlich im Bildungshaus St. Virgil in Salzburg statt. Doch in Finnland, dem zweifachen Pisa-Sieger, wird nicht selektiert, sondern integriert. Lempinen sinniert angesichts von "ene, mene, muh" weiter: "Ich bin selber Schulleiter in Finnland, unser System basiert auf Vertrauen, wir haben beispielsweise keine Schulinspektoren, die brauchen wir nicht."

"Das ist echte Arbeit"

Der 16-jährige Martin und der 18-jährige Adham sitzen bei der Eröffnung der Tagung in der ersten Reihe - aufmerksam, schließlich stellen sie gemeinsam mit ihrem Lehrer, Reiner Haag, "ihre" Werner-Stephan-Hauptschule in Berlin vor. Sie sind beinahe empört, als sie auf "Ferien in Salzburg" angesprochen werden. Sie sind die jüngsten der 150 Schulexperten und die einzigen Schüler, die an diesem Diskussionsforum teilnehmen.

"Nee, das ist Unterricht, das ist echte Arbeit, wir haben uns vorbereitet, was wir hier von den Besonderheiten unserer Schule, etwa der Mediation, dem Fair-Trade-Handel, dem Sozialprojekt erzählen", sind sich die beiden Schul-und Klassensprecher einig. Sie werden ihren Mitschülern von der Tagung berichten, notieren gleich die Aussage des Eröffnungsredners, Wolfgang Böttcher, Direktor des Instituts für Sozialpädagogik, Weiterbildung und Empirische Pädagogik der Universität Münster: "Starke Bildungsstandards vermindern die soziale Selektion, sie dienen dazu, die enge Verknüpfung zwischen sozialer Herkunft und Bildung zu entkoppeln." Eine sichere Grundbildung - "das, was alle Schüler wissen sollen" - so Böttcher, sei das Fundament fürs Weiterlernen. Je klarer und transparenter die Bildungsstandards seien, desto eher wüssten Lehrer, Eltern und Schüler, was von ihnen erwartet werde: "Bildungsstandards müssen nützlich und unterrichtbar sein. Schule hat die Pflicht, alle Kinder und Jugendlichen auf dieses Niveau zu bringen, dabei besonders die Kinder zu fördern, die Schwierigkeiten haben."

"Wieder richtig lernen"

Böttcher trat dafür ein, dass in den Schulen wieder "richtig gelernt" werde, so sei es an der Zeit, der Diskriminierung des Wissens entgegenzutreten. "Lesen ist eine Schlüsselkompetenz, um einen Text aber zu verstehen, die Bedeutung seines Inhalts zu erkennen, braucht es Wissen; auch der beste Leser kann einen Text, den er zwar lesen kann, dessen Vokabeln er aber zu 30 Prozent nicht versteht, nicht für sich verwerten."

Vor seinem Streifzug durch die Schulreformen in Europa steckte Jürgen Oelkers, Professor für Allgemeine Pädagogik am Pädagogischen Institut der Universität Zürich, seine Blickrichtung klar ab: "Wie hoch die Chancengleichheit wirklich war, entscheidet sich am Arbeitsmarkt. Dort zeigt sich die Verwendbarkeit des Gelernten. So wie das Lesen überall verwertbar ist, stehen auf anderen Gebieten die jungen Menschen vor der Wahl "use it or lose ist". Dass eine hohe Ausbildung noch lange keine Beschäftigung garantiert, belegt die Jugendarbeitslosigkeit: "Sie steigt europaweit, unabhängig davon, ob das Schulsystem gegliedert ist oder nicht. Interessant ist, dass Gesamtschulsysteme offenbar in dieser Hinsicht keine besseren Chancen bieten."

Martin und Adham wissen um diese Gefahren: "Sicher, wir denken über Jugendarbeitslosigkeit nach. Aber bei unseren Schulprojekten - unsere Schule gilt ja als sozialer Brennpunkt - haben wir Erfolge. Wir sehen, dass beispielsweise unsere Schülerfirma mit dem Fair-Trade-Point funktioniert." Der Schulalltag an ihrer Hauptschule in Berlin-Tempelhof wird unter anderem durch das "Versprechen an die Schulgemeinschaft", beeinflusst: "Ich nehme keine Drogen, Waffen oder rechtsradikalen Sachen mit in die Schule", lautet das erste Versprechen." Oder: "Ich unterlasse das Rauchen während der Schulzeit, … Ich akzeptiere und respektiere jeden Schüler, egal von welcher Herkunft und mit welcher Behinderung."

"Ich nehme keine Drogen"

Stolz präsentieren Adham und Martin dieses Konzept. "Ja, das sind Erfahrungen von Wirksamkeit, das gibt Selbstvertrauen. Die Schüler - sie kommen zwölf Jahre zu uns in die Schule - haben bei uns die Gelegenheit, ihre Kommunikationsfähigkeit zu verbessern. Geringes Selbstvertrauen und geringe Kommunikationserfahrungen und-fähigkeiten sind die Handicaps der Hauptschüler, dem wirken wir entgegen", erläutert ihr Lehrer, Reiner Haag, das Konzept.

Eigentlich wollten die beiden Schüler am Abend "noch schnell mal durch Salzburg laufen". So aber gehen sie die Präsentation ihrer anderen Projekte für die Tagung am nächsten Morgen noch einmal durch: "Die Fotos häng ich anders, die sollen schließlich von allen verstanden werden. Wir haben schließlich was zu sagen."

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