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Unsere Ellbogengesellschaft

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Jahrzehntelang lebte Osterreich weitgehend in sozialem Frieden. Ist es damit nun vorbei?

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Jahrzehntelang lebte Osterreich weitgehend in sozialem Frieden. Ist es damit nun vorbei?

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Die Trillerpfeifen und Ruhrufe, mit denen sich Regierungsvertreter vorige Woche auf der Jahresversammlung der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD) konfrontiert sahen, ließen nur eine der zahlreichen Rruchli n i -en in Osterreich, die bisher mehr oder weniger mühsam kaschiert werden konnten, offenbar werden. Im Gefolge der Sparpakete und angesichts der (Pensionsreform, aber auch anderer lange ungelöst gebliebener Probleme, enthüllt sich, daß Regriffe wie Solidarität oder Sorge um das Gemeinwohl längst zu Worthülsen verkommen sind. Echte Solidarität gibt es nur mehr innerhalb homogener Gruppen, wo sie droht, weh zu tun, wird sie schnell über Rord geworfen.

Wir erleben die Zunahme und Verschärfung einer Vielzahl von Konflikten: insbesondere zwischen Alten und Jungen, Armen und Reichen, Kinderlosen und Familien, außerhäuslich erwerbstätigen Frauen und „Nur-Hausfrauen ”, Arbeitslosen und Arbeitsplatz-Resitzern, von vielen anderen Disputen - etwa zwischen Inländern und Ausländern oder Technik-Fanatikern und Umweltschützern abgesehen.

Daß Spannungen nicht nur zwischen weltanschaulich oder parteipolitisch geprägten Gruppen, sondern vermehrt auch innerhalb von ihnen ausgetragen werden, ist nicht neu und läßt sich an etlichen aktuellen Reispielen aufzeigen: etwa an den ständigen Personal-und Richtungsquerelen der Grünen, aber auch an einzelnen Personen wie Eleonore Hostasch, Fritz Verzetnitsch oder Werner Fasslabend, die das Dilemma widerspiegeln, Arbeitnehmerinteressen und Parteiräson beziehungsweise Regierungsämter unter einen Hut bringen zu wollen.

Die berühmte Musketiere-Formel „Einer für alle, alle für einen!” ist out, der Titel des Chris-Lohner-Restsellers „Keiner liebt mich so wie ich” ist in. In der Tat wird unser Gemeinwesen mehr und mehr als sich in etlichen Rereichen polarisierende Ellbogengesellschaft demaskiert, in welcher der Kampf um den eigenen Vorteil, oft aber auch Neidgefühle und parteipolitisches Kalkül die entscheidende Rolle spielen.

Der Zerfall in soziale Gruppen mit ähnlichen Interessen läßt sich bereits bis in Umfrageergebnisse verfolgen: Daß 72 Prozent der Österreicher das Verhalten der GÖD-Funk-tionäre auf dem Gewerkschaftstag als frech und unverschämt bezeichnen und immerhin 61 Prozent den nunmehr von Fritz Neugebauer angeführten Reamten auch in der Sache widersprechen, entspricht im großen und ganzen dem, was aufgrund der demographischen Fakten (hier die Reamten und ihre Angehörigen, dort die anderen Österreicher) zu erwarten ist.

Die leichte Differenzierung in der Rewertung des aufmüpfigen Verhaltens einerseits und der konkreten Anliegen anderseits, zeigt immerhin, daß die Reamten mit dem richtigen Ton auch mehr Musik machen beziehungsweise auch mehr Anklang finden könnten. Grundsätzlich kann natürlich kein Zweifel darüber bestehen, daß eine rasche und umfassende Reform des Pensionssystems samt Angleichung von Reamten und ASVG-Rürgern notwendig und vernünftig ist.

Aber was zählt für oft mit Scheuklappen behaftete Polit-Akteure die Vernunft? Was wird Vernunft bei der ÖVP zählen, wenn wieder die Promille-Frage im Parlament zur Abstimmung kommt? Was zählt Vernunft bei der SPÖ, wenn der Spruch der Verfassungsrichter zur Familienbesteuerung konkret umgesetzt werden soll?

Der Meinungsforscher Fritz Karmasin schien jüngst in der TV-Sendung „Zur Sache” über das allgemein ungeheuer große Interesse an der doch „nur 20 Prozent” betreffenden Reamten-Thematik verwundert, er hat dazu aber keinen Grund: Hinter dem Konflikt um die Reform der Reamten-und ASVG-Pensionen stehen Fragen, die alle angehen, etwa das Problem des künftigen Generationenvertrages oder die Frage der Gerechtigkeit im Pensions- und Steuerwesen.

So wurde auch im Gefolge des Urteils des Verfassungsgerichtshofes in Sachen Familienbesteuerung eine Rruchlinie in unserer Gesellschaft spürbar: Hier das Gericht mit deY klaren Entscheidung, daß Kinder eine Relastung darstellen, die zumindest im halben Umfang der gesetzlichen Unter-haltsverpflichtungen steuerlich zu berücksichtigen ist, dort Klassenkampftöne, als ob Kinder reine Privatsache wären. Daß in einer Gesellschaft, die immerlbetont, der Mensch stehe in ihr im Mittelpunkt, Parteisteuern voll steuerlich absetzbar sind, der Aufwand für Kinder es aber nicht einmal zur Hälfte sein soll, offenbart eine eigenartige Denkweise mancher Volksvertreter. Das kommt einem so vor, als ob man bei einem Schiffsunglück die Rettungsboote für die prallen Geldsäcke der Reederei reserviert und den mitreisenden Familien ein paar Schwimmreifen zubilligt.

Es kann nicht Aufgabe der Politik sein, je nachdem, wo man gerade Wählerpotential oder Klientel wittert, Gruppen gegeneinander auszuspielen oder Konflikte anzuheizen, zum Reispiel eben Kinderlose gegen Familien, Reamte gegen ASVG-Arbeitnehmer oder Alte gegen Junge. Es muß der Politik vielmehr darum gehen, durch vernünftige Gesetze dem sozialen Frieden zu dienen. Umverteilung muß den Schwachen helfen, darf aber die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Starken nicht gefährden. Den gegenwärtigen Regierungsparteien ist die zeitgemäße Rewäl-tigung dieser Aufgaben leider immer weniger zuzutrauen.

Rietet die große Oppositionspartei FPÖ, die in ihrem neuen Programm ein „Christentum, das seine Werte verteidigt” hofiert, eine Alternative? Der zentrale christliche Wert „Nächstenliebe” bedeute im Sinn von Papst Johannes Paul II. die Nächsten, also die Österreicher, zu lieben, ließ FPÖ-Chef Jörg Haider die staunende Öffentlichkeit wissen. Meinte er das ernst oder wollte er so gleich den Papst und die Mehrheit der Christen dazu aufrufen, den Wert Nächstenliebe gegen solche Interpretationen zu verteidigen?

Von Haiders Position ist es nämlich gar nicht mehr weit zu dem für die hier geschilderte Ellbogengesellschaft charakteristischen Satz „Jeder ist sich selbst der Nächste”.

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