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Unsere „skeptische Generation“

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Die Erkenntnis, daß die Jugend von heute nicht schlechter ist als in anderen Zeiten, ist schon so oft ausgesprochen worden, daß man sich scheut, sie zu wiederholen. Wenn man daher bei einer Diagnose des gegenwärtigen Zustande der Jugend zur Feststellung gelangt, daß sie sich in einer Krisensituation befindet, so ist damit keineswegs ein moralisches Welturteil über die Jugend gefällt. Denn ein solches Urteil wäre gedanklich nicht trennbar von dem Begriff der Schuld. Und hätte wirklich jemand den Mut, die Jugend für ihren Notzustand verantwortlich zu machen? Angesichts der Fehlleistungen der Erwachsenen auf vielen Gebieten unseres gesellschaftlichen Lebens in den letzten Jahrzehnten ist es doch erstaunlich, daß die Orientierungslosigkeit der Jugend nicht größer und ihre Reaktionen daher nicht heftiger gewesen sindl Dem Einsichtigen mag es oft scheinen, daß, wenn die Jugend immer adäquat reagiert hätte, ihre Exzesse doch wesentlich stärker hätten ausfallen können. Glücklicherweise hat sie aber — wenigstens nach außen hin — inadäquat reagiert: sie wurde bloß zur „skeptischen Generation“ (Schelsky). Dies war jedoch nur die Antwort auf den Jahrmarkt der Ideologien, die ihr feilgeboten wurden. Wie billig sind wir doch, angesichts der Ausbrüche der Barbarei und der Schändungen des Menschenbildes, die wir7 hinter uns haben, davongekommen! Dies muß den voreiligen Be- und Verurteilern der heutigen Jugend immer wieder in Erinnerung gerufen werden, auch angesichts gewisser bedauerlicher, mitunter erschütternder Einzelfälle. Ihr Aussagewert ist, aufs Ganze gesehen, gering. Die nüchternen Zahlen der Statistik, die zeigen, daß die Jugendkriminalität verhältnismäßig kaum zugenommen hat, wiegen doch wohl schwerer.

Jedoch ist die- Anwendung ethischer Kategorien, die übrigens durch menschliche Erkenntnis außerhalb des Gewissensbereiches nie mit Sicherheit vollzogen werden können, für die soziologische Betrachtung des Jugendproblems unfruchtbar. Das Problem der Krise der Jugend liegt auf einer anderen Ebene, so wie der Mensch für; seine Krankheiten — zumindest normalerweise ;-r nicht verantwortlich- ist. Abaauch die Feststellung von der Krisenhaftigkeit der heutigen Jugend besitzt noch keinen besonderen Aussagewert Aehnlich wie für die Jugendpsychologie die Pubertät an sich schon eine „kritische, Periode“ darstellt, so ist auch für die soziologische Betrachtung das Verhältnis der Generationen wahrscheinlich zu allen Zeiten krisenbelastet: Die Jugend befindet sich gewissermaßen ■ in einer Dauerkrise, die durchaus normal ist. Zum Problem wird dieser Zustand erst in dem Augenblick, da er von der Gesellschaft nicht mehr bewältigt werden kann, und zwar gleichgültig, ob von der jungen oder von der erwachsenen Generation oder von beiden. Daß wir heute eine solche Situation erleben, sollte eigentlich, angesichts des ungeheuren Umwandlungsprozesses, in dem sich unsere Gesellschaft befindet, und der notorisch langsamen Anpassungsfähigkeit des Menschen an diesen Prozeß, gar nicht verwunderlich erscheinen.

Weder eine romantische Idealisierung noch eine ressentimentgeladene Entrüstung kann die Gesellschaft von der Verpflichtung entheben, diese außerordentliche Krisensituation, in der wir uns befinden, nüchtern einzufangen und rational zu bewältigen. Die Frage lautet: Welche objektiven und empirisch konstatierbaren Symptome können zur Erhellung dieses Krisenzustandes aufgezeigt werden? Diese Frage nach der Diagnose nicht mit dem nötigen Ernst zu stellen, könnte sich in unserer immer weniger überschaubaren Gesellschaft verhängnisvoll auswirken. In der industriellen und bürokratischen Massengesellschaft haben nun einmal die traditionellen Verhaltensmaßstäbe der „kleinen Gruppen“ ihre Wirkkraft weitgehend eingebüßt.

Aus dieser Erkenntnis hat sich auch das Bun-3esministerium für Unterricht, das ressortmäßig sowohl für die Schule als auch für die außerschulische Jugenderziehung zuständig ist, schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken getragen, im Rahmen einer Tagung die Vertreter der maßgeblichen Institutionen mit diesen- Problemen zu konfrontieren und Maßnahmen zur Abhilfe zu beraten. Im Jänner dieses Jahres trat nun Unterrichtsminister Dr. Drimmel im Rahmen der in Salzburg abgehaltenen Volksbildnertagung und der Pädagogischen Konferenz mit dem Plan der Einberufung einer solchen Tagung vor die Oeffentlichkeit. Und so fand, wie bereits berichtet, vor kurzem in Salzburg die Tagung. „Jugend in Not“ statt.

Bedeutsam war die Tatsache, daß die Teilnehmer die verschiedensten politischen, weltanschaulichen und religiösen Auffassungen in Oesterreich repräsentierten. Daß mit der Vorbereitung und Programmierung dieser Tagung die Abteilung für Erwachsenenbildung im Unterrichtsministerium betraut worden war, findet Sinn und Begründung darin, daß in erster Linie die Verantwortung der Erwachsenen für die Jugend zur Diskussion gestellt werden sollte.

Grundlegende Erklärungen des Bundesministers Dr. Drimmel riefen zunächst nach einer Koordinierung der gerade auf diesem Gebiete so verhängnisvoll vielfältigen „Kompetenzen“. Die Legitimation der österreichischen Unterrichtsverwaltung hierzu könne von niemandem ernstlich bestritten werden. Die ständige Pädagogische Konferenz seines Ministeriums habe sich bereits eingehend mit der Bedeutung des „Dritten Milieus“ neben Elternhaus und Schule befaßt; jedes dieser drei Elemente befinde sich in einem Notzustand, und ihre Beziehungen untereinander sind gestört. Bei dem ganzen Jugendproblem handle es sich übrigens nicht um eine spezifisch österreichische Angelegenheit, sondern um ein Anliegen, das allerorts die Kultur des weißen Mannes betroffen habe.

Der Tagung war von den Veranstaltern die Aufgabe gestellt worden, auf Grund der eingehenden Diagnosen möglichst konkrete Vorschläge für eine Therapie auszuarbeiten. Dieser Aufgabe unterzogen sich die einzelnen Arbeitskreise, die im Anschluß an jedes Referat zusammentraten.

Wie bereits hervorgehoben, boten die Beratungen ein Spiegelbild des weltanschaulichen und politischen Pluralismus unserer modernen Gesellschaft. Wie sollte es auch anders seinl Daß aber trotz dieser Gegensätzlichkeiten auch bei diffizilen Problemen immer wieder eine gemeinsame Plattform gefunden werden konnte und die Schlußresolution einstimmig angenommen wurde, ist ein ermutigendes Zeichen für die Auflockerung der Fronten und die weit fortgeschrittene Versachlfchüng der Gegensätze in unserem Lande. In der Diskussion rief ein Teilnehmer einmal aus: „Die Politiker sollen uns Fachleute nur in Ruhe verhandeln lassen, wir kommen sicher zu einer Lösung ... 1“

Die Schlußresolution stellt zunächst fest, daß die Gefährdung der österreichischen Jugend nicht an den Zahlen der Jugendkriminalität gemessen werden könne, sondern diese nur ein Symptom eines tiefersitzenden Notstandes sei. Folgende bedenkliche Entwicklungsrichtungen lassen sich im Erscheinungsbild der heutigen Jugend deutlich erkennen:

1. Erotische Fehlhaltung infolge verfrühter sexueller Erlebnisse; sie führen notwendig zur Störung des späteren Ehe- und Familienlebens.

2. Eine zunehmende Verrohung, welche die Gemeinschaftsfähigkeit vieler junger Menschen in Frage stellt.

3. Mangelnde Achtung vor echter Autorität, verbunden mit dem Anspruch \ auf Vormündigkeit.

4. Ueberbetonung des Nützlichen und des Lustbetonten auf Kosten religiös-sittlicher Werte.

5. Fehlen einer verantwortungsbewußten Beziehung zum Geld, daher mangelnde Spargesinnung und Selbstauslieferung an das Konsumdiktat der „Industrie der Lebensfreude“.

6. Eine um sich greifende geistige Verflachung, um nicht zu sagen, Verdummung, welche die Jugendlichen für Kitsch, Sensation und Stimmungsmache immer anfälliger macht.

7. Konzentrationsschwäche, eine gewisse Passivität als Folge der Reizüberflutung und ein Nachlassen der schulischen Leistungen und der Arbeitshaltung im Betrieb.

8. Eine ausgesprochene Rentnergesinnung gegenüber der größeren Gemeinschaft, ein sozialer und politischer Absentismus machen sich breit.

Angesichts der Bedeutung, die der Familie in allen diesen Belangen zukommt, wird zunächst festgestellt, daß das Kind ein unabdingbares Recht auf die Familie hat. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Forderung, daß bei Ehescheidungen zur Wahrung der Rechte des Kindes ein behördlicher Vertreter beizustellen sei. Weiter werden bereits bekannte Forderungen wiederholt, so zum Beispiel die Verankerung der Interessen der Familie in der österreichischen Bundesverfassung, die Errichtung eines Amtes für Familienfragen bei der

Bundesregierung und die Ausweitung des Familienlastenausgleiches in Form einer Mütterhilfe. Es müsse eine von der breiten Oeffentlichkeit getragene und von Presse und Rundfunk tatkräftig unterstützte Bewegung für das Kind geschaffen werden, um damit ein Klima zu bereiten, in dem die Liebe zum Kind, dessen Wertschätzung und alle notwendigen Maßnahmen zu seiner Behütung in Familie und Gesellschaft gedeihen. Von den Schulbehörden wird die Einführung eines diesbezüglichen Unterrichtes für die Berufsschülerinnen gefordert. Von den weiteren Forderungen an die Schule erscheint die nach der Bereitstellung der erforderlichen Mittel für ein großzügiges Schulbauprogramm, vor allem im mittleren Schulwesen, - als besonders vordringlich. Den Schulbehörden wird weiter empfohlen, die Entscheidung über die Teilnahme am Religionsunterricht auch für Schüler vom 14. Lebensjahr an den Eltern zu übertragen und den Religionsunterricht auch in sämtlichen Berufsschulen und ähnlichen Lehranstalten einzuführen. In diesem Zusammenhang wird auch von den Einrichtungen der außerschulischen Jugenderziehung und der Erwachsenenbildung erwartet, daß sie in ihren Veranstaltungen Fragen der religiösen Bildung mehr als bisher Raum geben.

Besonderes Gewicht wird auf eine sinnvolle Freizeitgestaltung für die Jugend gelegt. So werden Heime für die Jugendgemeinschaften, Spiel- und Sportstätten und der dringend notwendige Ausbau des Jugendherbergsgesetzes durch namhafte Mittel der öffentlichen Hand gefordert.

An Presse, Rundfunk und Fernsehen wird appelliert, über Gewaltverbrechen, ganz besonders über Sexualdelikte, nicht in ungebührlicher Weise zu berichten, dafür aber den positiven Erscheinungen der Jugend mehr Raum zu geben. Von den Zeitungsverlegern wird verlangt, den Inseratenteil sauber zu halten, und von den politischen Parteien, in Wahlzeiten persönliche Verunglimpfungen der Gegner zu unterlassen. Eine weitere Forderung betrifft die eheste Novellierung des Bundesgesetzes über den

Schutz der Jugend gegen sittliche Gefährdung. Die Bemühungen um wertvolle Jugendlektüre müssen intensiviert werden. Schließlich werden Maßnahmen zur Förderung des guten Films durch wirksame Steuerermäßigung prädikati-sierter Filme, Ausdehnung und Förderung der Filmerziehung und die Ausdehnung der freiwilligen Selbstkontrolle auch auf erotisierende Filme gefordert.

Mit der Erfüllung dieser Forderungen wäre ein schöner Anfang gemacht. Eines aber dürfte bei all diesen Unternehmungen nicht vergessen werden: Maßnahmen, Reglements und Institutionen sind wichtig, ohne Zweifel. Aber sie würden ihr Ziel verfehlen, wenn nicht noch etwas dazukommt, was ein großer Staatsmann der Ersten Republik einmal auf die Formel gebracht hat: die Sanierung der Seelen.

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