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Verbrecher werden gebessert

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Vor 30 Jahren begannen die Vereinigten Staaten damit, die Bundesgefängnisse und den Strafvollzug neuzugestalten. Mehrere der 48 Staaten beschritten bei den Staatsgefängnissen den gleichen Weg und setzten ihn trotz längerer Unterbrechung fort. Heute steht wohl Kalifornien an der Spitze der Reformbewegung, deren Leitgedanke lautet: Es ist nicht mehr auf Abschreckung und Vergeltung durch Strafe Gewicht zu legen, sondern auf die Besserung der Verbrecher durch wirksame Behandlung. Durch diese soll möglichst vielen Rechtsbrechern zur Einsicht in ihr antisoziales Verhalten und zur positiven Einstellung gegenüber der Gesellschaft, zur Resozialisierung, verholfen werden. Für dieses Ziel wurden verschiedene Bezeichnungen gewählt: Correction, Readaptation, Reformation, Rehabilitation.

Die Männer dieser Reformbewegung sind keine Utopisten. Es sind Leiter großer Gefängnisse, Staatsfunktionäre, Professoren aus ganz Amerika und Kanada Sie haben sich in Vereinigungen zusammengeschlossen und werben auch in der Oeffentlichkeit, ohne deren Zustimmung und finanzielle Mittel Reformen unmöglich wären.

Wie sieht die Behandlungsmethode aus? Das kalifornische Strafgesetz verpflichtet das staatliche Correction Department, dafür zu sorgen, daß bei jedem Gefangenen — mit Strafdauer über ein Jahr — Lebensgeschichte und Ursachen seines Verbrechens wissenschaftlich studiert werden. Es sind Empfehlungen für seine Obsorge, Schulung und Beschäftigung auszuarbeiten in Hinblick auf seine „Reformation“ und den Schutz der Gesellschaft. Diese Bestimmung setzt der üblichen Massenbehandlung ein Ende. Im

Jahre 1944 wurde mit der Durchführung dieser Vorschrift begonnen, im Sommer 1957 wurde in Vacaville ein Reception-Guidance-Center betraut, alle erwachsenen Strafgefangenen Nordkaliforniens aufzunehmen, zu untersuchen und zu führen. Diese Stelle verfügt über 600 Betten und ist einem Spital für geistesgestörte Gefangene (1400 Betten) angegliedert. Im Center werden die Häftlinge durch sechs bis acht Wochen untersucht und dann mit Untersuchungsergebnis und Empfehlungen einer Strafanstalt übergeben; durchschnittlich vier Prozent der Untersuchten werden jedoch im Spital zur Dauerbehandlung geistiger Störungen zurückbehalten.

Beim Besuch des Center kam ich gerade dazu, wie zwei Gefangene überstellt wurden. Sie waren gefesselt und sichtlich erregt. Die Fesseln wurden ihnen abgenommen, beide erhielten nach der Aufnahme einen schriftlichen Wegweiser. Die Einleitung besagt: .Sie sind wahrscheinlich von Fragen. Zweifeln und Befürchtungen erfüllt. Dieser Wegweiser, jeder Mitarbeiter der Klinik und jedes Ueberwachungsorgan will Ihnen helfen. Verdienen Sie sich durch Ihre eigene Tätigkeit die Achtung und Behandlung, die Sie wünschen.“

Die gründliche wissenschaftliche Untersuchung des Häftlings im Center dient der Diagnose und umfaßt auch die Feststellung geistiger oder emotioneller Störungen, der Intelligenz, Schulbildung und Berufseignung. Der Schwerpunkt der Behandlung im Spital liegt auf der Gruppentherapie. Zweimal wöchentlich kommen je zehn Patienten zu einer einstündigen Aussprache über sich und ihre Vergangenheit, über ihre Sorgen und Erfahrungen zusammen. Sie entstammen verschiedenen Berufskreisen, auch die Art ihrer Delikte ist sehr verschieden. Der Psychiater sitzt zwischen ihnen und beschränkt sich darauf, durch eine Bemerkung oder Frage weiterzuhelfen. Manchmal kommen Verbitterung und Haß zum Ausbruch, auch das gehört zur Therapie. Im Lauf der Besprechungen kann sich die Einsicht in die eigenen Fehler und Mängel entwickeln sowie das Bewußtsein, daß die meisten Menschen mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben und doch nicht kriminell werden. •

Das Standardprogramm für die Behandlung von Strafgefangenen sieht vor: Unterricht, bei Eignung bis zum High-School-Diplom; Berufsarbeit in Industrie, Handwerk, Landwirtschaft oder Büro, sie erfordert Selbstdisziplin und gibt Selbstvertrauen; freiwillige religiöse Betätigung sowie geistliche Führung und Beratung, sie helfen auch über Zeiten der Verlassenheit hinweg; Anleitung zur Gestaltung der Freizeit (Bibliotheksdienst und gute Filme); Sport in Hallen und im Freien, hier lernt man die Rechte anderer achten und kann sich von aufgestauten Energien und Spannungen befreien. — Der Zusammenhang mit der Außenwelt soll nicht verlorengehen. Mit Bewilligung kann der Häftling im Center monatlich vier Besuche empfangen und wöchentlich fünf Briefe schreiben, Samstag ist die Kantine offen, in den Einzelzellen stehen abends Radiokopfhörer zur Verfügung. Das Licht wird um 10.30 Uhr abgedreht. — Der Häftling kann sich nrt den Sorgen, die ihn oder seine Familie betreffen, an einen Berater der Anstalt wenden.

Nun entsteht freilich die Frage: Haben es hier die Verbrecher nicht besser als viele anständige Menschen? Ich sprach auch darüber mit dem Leiter des Centers, Mr. R o u s e. Hier seine Antwort: „Und doch wünscht sich jed/r die Freiheit. Ohne auf die abschreckende Wirkung abzuzielen, ist sie auch hier im Entzug der Freiheit gegeben. Was spricht für Vacaville? Daß wir schon jetzt bei vielen Gefangenen eine günstige Veränderung, Einsicht und guten Willen feststellen. Die Zahl der Unverbesserlichen ist viel geringer, als man bisher angenommen hat.“

Die Reformbewegung hat in den 49 Staaten ein weites Arbeitsgebiet. Zu den Erfolgen zählt die Tatsache, daß es nunmehr auch Strafanstalten mit mittlerer und mit nur geringer Freiheitsbeschränkung gibt und daß die Gefangenen in zunehmendem Maße, in einem Staat mehr als 80 Prozent, auf Farmen sowie in Camps für Aufforstung und Straßenbau verwendet werden.

Die dauernde Besserung von Rechtsbrechern ist an verschiedene Voraussetzungen geknüpft. So muß für das Standardprogramm auch ein Standardpersonal zur Verfügung stehen: von seiner Aufgabe durchdrungen, vielseitig ausgebildet und entsprechend bezahlt. — Die Strafgefangenen werden meist vorzeitig, on parole, entlassen und dann vom Parole-Officer betreut. Dieser darf nicht, wie üblich, überlastet sein. Schließlich braucht der Gestrauchelte auch von der Gemeinschaft Hilfe: eine Arbeit zum Leben!

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