7099479-1995_06_12.jpg
Digital In Arbeit

Verzichtet auf die Solidarität der Armeren!

Werbung
Werbung
Werbung

So unerfreulich, ja staatspolitisch besorgniserregend die scheinbare Unvereinbarkeit der guten Gründe, die für eine ausgabenseitige Budgetsanierung sprechen, und der ebenso guten Gründe, die sich für eine sozial ausgewogenere Verteilung der Sanierungslasten anführen lassen, auch sein mag - ein Gutes könnte die mit hierzulande ungewohnter Vehemenz ausgetragene Auseinandersetzung über das „Sparpaket” haben:

So könnte (und sollte) der Anlaß sein, darüber ernsthaft nachzudenken, ob das für heuer drohende Horrordefizit nicht bloß der zufällige Kulminationspunkt einer Fehlentwicklung ist, die schon vor zwei, drei Jahrzehnten eingesetzt hat und sich unweigerlich fortsetzen wird, selbst wenn es auf welche Weise immer gelingt, fürs erste das Budget zu konsolidieren: der Fehlentwicklung nämlich, beim - wünschenswerten -Ausbau des Sozialstaates nicht dafür gesorgt zu haben, daß Transferzahlungen und Gratisleistungen nur den ihrer wirklich Bedürftigen zugutekommen und nicht auch Menschen, die nur noch in existentiellen Ausnahmesituationen (schwere Operation, dauernde Invalidität oder dergleichen) auf die Hilfe der Allgemeinheit angewiesen sind.

Gäbe es nur einige wenige solche „Trittbrettfahrer” des Wohlfahrtsstaates, würde es sich nicht lohnen, ihretwegen vom administrativ einfachen Gießkannenprinzip abzugehen. Aber im (zumindest) neuntreichsten Land der Welt muß es längst eine solide Mehrheit von Bewohnern geben, die - oft ohne dies zu wollen, denn der kostenlose Arztbesuch auf Krankenschein ist so ziemlich die einzige Segnung des Sozialstaates, auf die zu verzichten überhaupt möglich ist - zu Verursachern von Ausgaben werden, die sich ohne soziale Härten ganz oder zumindest zum Teil einsparen ließen.

Die Überlegung, daß es doch wohl nicht der Ümverteilungsweisheit letzter Schluß sein kann, es bei den aus dem Steueraufkommen finanzierten staatlichen Transfer- und Gratisleistungen sosehr an Treffsicherheit fehlen zu lassen, daß - nur wenig überspitzt formuliert - bloß bei Einkommenmillionären am oberen und bei Mindestrentnern am unteren Ende der Skala gewiß ist, wie der Saldo aussieht zwischen erbrachten (Steuer- und Beitrags-) und empfangenen (Transfer- und Gra-tis-)Leistungen, stand an der Wiege eines Konzepts, für das eigentlich weit mehr spricht als die hochaktuelle, aber wohl bereits verpaßte Möglichkeit, auch ohne die von der ÖVP abgelehnten Steuererhöhungen die von der SPÖ geforderte soziale Ausgewogenheit der Sanierungslasten zu verwirklichen:

Warum nicht das Übel an der Wurzel packen und den Wohlhabenderen anstelle eines (wie immer gestalteten) Solidaritätsbeitrages einen „Solidarverzicht” auferlegen, nämlich den progressiven Verzicht auf staatliche Geld- und Gratisleistungen (und gerade diese können einen besonders hohen Geldwert verkörpern, beispielsweise die Studienge-bührenfreiheit auch für den Sohn des Generaldirektors eine halbe Million und mehr) nach Maßgabe der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Empfängers?

Die - überwindbare - Hauptschwierigkeit bei diesem Konzept für die Verwirklichung von größerer sozialer Gerechtigkeit mit Minderausgaben für die „Beichen” ist die Schwierigkeit, in einem System der Individualbesteuerung das Haushaltseinkommen als dem (neben der Haushaltsgröße) entscheidenden Indiz für die Belastbarkeit mit einem „Solidaritätsverzicht” zu ermitteln. Doch ganz abgesehen davon, daß sich genau dasselbe Problem bei einer sozial gestalteten Solidarabgabe stellen würde, knüpfen auch schon bisher die - wenigen - gestaffelten öffentlichen Leistungen (Annuitätszuschüsse, Mietenbeihilfen, Elternbeiträge für die Nachmittagsbetreuung ihrer Kinder) an das Haushaltseinkommen an. Daran, daß sich das Haushaltseinkommen angeblich nicht ermitteln läßt, dürfte ein mit diesem überproportional steigender „Solidarverzicht' nicht scheitern, und ebensowenig dürfte er daran scheitern, daß bisherige Gratisleistungen zuerst in Quasi-Geldleistun-gen (zum Beispiel Bildungsschecks) umgewandelt werden müßten, damit man sie mit steigendem Einkommen kürzen und schließlich streichen kann..

So sehr sich das hier skizzierte Konzept als Ausweg aus der Zwickmühle zwischen der unerläßlichen Budgetsanierung und dem Wahlver-

Die Wahlversprechen lassen sich nicht einhalten foto reuter sprechen beider Koalitionsparteien, die Steuern nicht zu erhöhen, anbieten mag - realistischerweise wird man einsehen müssen, daß sich eine so totale Systemänderung in den wenigen Wochen bis zum Budgettermin nicht wird bewerkstelligen lassen.

Aber das Budget für 1995 ist mit Sicherheit nicht das letzte, das einer mehr als bloß vorübergehenden Entlastung bedarf ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung