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Von Cheeseburgern und Churchburgern

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Die Beziehung zwischen Jugend und Kirche befindet sich in der nachkatastrophalen Ära. Die erdrückende Mehrheit von jungen Menschen ist auf kräftige Distanz zu Kirche und Christentum gegangen. Für junge Menschen ist das Christentum eine von mehreren religiösen, spirituellen und esoterischen Spielarten, bei denen sie sich steinbruchartig und gelegentlich bedienen.

■ In der Jugendkultur haben Christentum und Kirche keine prägende Wirkung mehr. Obwohl Jugendkultur der gemeinsame Ausdruck von Verbindlichkeit zwischen bestimmten Jugendlichen sowie ihrer Umgebung ist, also wert- und sinnhaltig ist, spielen christliche dort nur eine nachgeordnete Bolle, wenn sie überhaupt noch wahrgenommen werden.

■ Die Jugendkultur ist aufgesplittert in tausend Szenen, Wertewelten und Lebensstile. Sie reichen von eher suizidalen bis zu vitalen Szenarien: Die Egos, die Egoisten, auf der einen Seite, die Stinos, die Stink-Normalen mitten drin, und die Muslies, Ökos und Fundies auf der anderen Seite.

■ Jugendkultur ist heute keine lautstarke Protest- und Oppositionskultur, sondern Variationskultur der' Gesamtkultur, ist Assimilation, Inkulturation und Vorwegnahme starker gesellschaftlicher Möglichkeiten und kultureller Trends. So bewältigen junge Menschen die Individualisie-rungs-, Pluralisierungs- und Mobilitätsdynamik der Gesellschaft - und heizen sie mit an und auf.

■ Junge Menschen bevorzugen meist eine bestimmte Szene oder Wertewelt, von der aus sie in andere eintauchen, Kombinationen mit Elementen anderer Lebensart ausprobieren oder sich massiv gegen andere abgrenzen und behaupten. In dieses jugendkulturelle Verhalten sind auch Christentum und Kirche eingebunden. Nachdem nun jahrelang Jugendforscher und Pastoraltheologen davon geschrieben und gesprochen haben, daß die Kirche die jungen Menschen verlieren wird, müssen wir heute registrieren: Die Kirche hat die jungen Menschen verloren. Die Katastrophe ist dagewesen und schon vorbei. Doch die Entwicklung ist nicht dort stehengeblieben: Auch das Christentum ist nur noch für eine Minderheit von jungen Menschen von Bedeutung. Und wo Christentum und Kirche eine Bedeutung haben, wird mit ihnen genauso umgegangen, wie mit anderen Weltweiten und Szenen in der Jugendkultur: pluralistisch, individualistisch, mobil. Christentum als traditioneller Steinbruch, Kirche als Dienstleistungsapparat, Arbeitgeber, gesellschaftliche Einflußsphäre. Der Umgang ist nicht mehr substantiell, sondern funktional und instrumental.

■ Eine neue, repräsentative Jugendstudie in Deutschland mit 3.275 jungen Menschen zwischen 13 und 29 Jahren von EMNID vom Mai 1996 präsentiert brisante Daten: nur noch 9,5 Prozent der jungen Menschen sind vom christlichen Gottesbild überzeugt. Den christlichen Erlösungsgedanken nehmen noch ganze 6,8 Prozent für sich in Anspruch. Welch ein Desaster für Jahrzehnte kognitiver und katechistischer Arbeit, für das ganze Trommelfeuer der Katechismen und permanenten Überwachung der rechten Lehre! 55,6 Prozent der jungen Menschen sehen im Leben einen Selbstzweck beziehungsweise, daß nach dem Tod alles aus sei. Von der kulturellen Prägekraft christlicher Lehre kaum eine Spur. Die Jugendlichen pfeifen auf das Christentum. Bei ihnen wird die Volkskirche schon heute zur Sekte. Mit ihnen beginnt die postchristliche Zeit. Trotz der geringen Zustimmung zu zentralen christlichen Inhalten sehen sich immerhin 17,2 Prozent der jungen Menschen als Christen, wobei sie mit dem Christentum in der obengenannten Weise umgehen. Insofern ist auch damit kein Staat mehr zu machen.

■ Jugendkultur ist Ausdruck von Lebensbewältigung junger Menschen. Sie hat aber eine dunkle Seite. Umfragen zufolge sehen sich nur um die 15 Prozent der Jugendlichen als beschwerdefrei an, aber 52,6 Prozent klagen über regelmäßige Kopfschmerzen, 49,5 Prozent über Nervosität, 32,35 über Magenbeschwerden und fast 25 Prozent haben starke Probleme, einzuschlafen. Alarmierende psychosomatische Botschaften, die ausdrücken, welchen Preis gerade auch im Wachstum befindliche Jugendliche bei ihrer Teilnahme am Modernierungsprozeß der Gesellschaft zahlen.

■ Wenn überhaupt, dann muß Kirche die Nöte und die Kompetenzen junger Menschen im Modernierungsprozeß aufgreifen. Sie muß eine diakonischere, solidarischere und notwendigere Jugendarbeit betreiben, die nicht auf Bekrutierung, nicht auf Machtbewahrung der Kirche und nicht auf Bevormundung von Menschen abzielt. Sie muß nicht weniger, sondern quantitativ und qualitativ mehr Jugendarbeit betreiben, wenn sie dem christlichen Glauben in der Gesellschaft noch eine Chance und jungen Menschen noch einen Zugang zur christlichen Lebensorientierung durch Jesus erschließen will. Dabei entscheidet nicht die Lehre, sondern die Praxis. Das hängt nicht von den Jugendarbeitern ab, die die Zeichen der Zeit meist schon verstanden haben, sondern vom amtskirchlichen Dialog mit jungen Menschen und Jugendarbeitern, der endlich Veränderung und Lerngewinn auf beiden Seiten bedeuten muß. Und von den Bahmenbe-dingungen, die eröffnet werden.

■ Die nachkatastrophale Jugendpa-storal muß jungen Menschen praktische Hilfe, Solidarität und notwendendes Handeln untereinander und mit anderen im Verständnis Jesu erschließen.

Nur, wenn Kirche und Christentum für Jugendliche existentiell - und nicht macht- und gesellschaftspolitisch - im Umgang mit ihren Nöten und Kompetenzen, im Kampf gegen neue Entbehrungen unentbehrlich werden, kann es einen Neuanfang für eine Zukunft von Jugend und Kirche geben. Sonst werden Kirche und Christentum für junge Leute gänzlich entbehrlich.

Der Autor ist

Theologe und Sozialforscher in Frankfurt/Main.

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