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Von Hansel und Gretel zur Mitbestimmung

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Von „Kinder an die Macht” (wie Herbert Grönemeyer sang) ist noch keine Rede, von mehr Rechten für Kinder aber sehr wohl.

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Von „Kinder an die Macht” (wie Herbert Grönemeyer sang) ist noch keine Rede, von mehr Rechten für Kinder aber sehr wohl.

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In früheren Kulturen hatte der Vater das Becht, über Leben und Tod seines Kindes zu entscheiden. Dieses ius vitae necisque schwächte sich aber bald zu einem Notverkaufsrecht ab: die geschriebene Bechtsgeschichte von Hansel und Gretel. Daneben hielt sich in unserer Bechtskultur der Kinderarbeitsver-mietungsvertrag bis ins 19. Jahrhundert. Dokumentiert in der Geschichte der schwarzen Brüder, der Kaminfegerbuben aus dem Tessin, die noch in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts an Mailänder Bauch-fangkehrer vermietet wurden. Der hoheitliche Kinderschutz begann im Mittelalter als Waisenschutz. Davon profitierten allerdings nur eheliche Kinder, die (Bechts-)Stellung unehelicher Kinder war lange Zeit eine Tragödie der besonderen Art. Gegen die Kinderarbeit, aber noch lang nicht gegen das verletzte Kindeswohl, wandte sich die Aufklärung.

Erstmals in der Geschichte werden Kinder in der UN-Konvention über die Bechte des Kindes nicht als Schutzbefohlene betrachtet. Am 16. August 1992 ratifizierte Osterreich diese Konvention. Darin werden Kinder als Träger von Grund- und Menschenrechten dargestellt. Im Auftrag des damaligen Bundesministeriums für Umwelt, Jugend und Familie untersuchte das Österreichische Institut für Bechtspolitik mit Sitz in Salzburg mit unabhängigen Fachleuten die österreichische Bechtsordnung auf Vereinbarkeit mit der Konvention. Dieser Bericht liegt nunmehr in Buchform vor.

Obwohl die Fachleute zu dem Schluß kamen, daß diese Konvention, die weltweite Mindeststandards für Kinderrechte festschreibt, mit den österreichischen Gesetzen prinzipiell im Einklang ist, empfehlen sie angesichts der Zielsetzung der Konvention Änderungen zum Wohl der Kinder in Österreich. Johannes W. Pichler, Direktor des Österreichischen Institutes für Bechtspolitik, stellte in seinem Besümee fest, daß damit die Aufgabe der Wissenschaft erfüllt sei, der Politik Wahlmöglichkeiten zu bieten. Für die Umsetzung ist die Politik zuständig.

Einige Vorschläge, wie etwa das Grundeinkommen für Kinder und Jugendliche, um ihren gesellschaftlichen Wert zu heben, muten angesichts der aktuellen Spardiskussion wie Illusion an. Bascher verwirklich -bar erscheinen die Vorschläge zur politischen Mitbestimmung durch Kinder und Jugendliche. Die UN-Konvention stellt etwa in Artikel 12 fest, daß „dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Becht zusteht, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern”. Und: Diese Meinung des Kindes ist angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Beife zu berücksichtigen.»

Die politische Mitwirkungsmöglichkeit von Kindern und Jugendlichen ist bisher rechtlich unmittelbar und direkt im österreichischen Becht nicht existent. Allerdings bezieht die Nationalratswahlordnung Kinder und Jugendliche indirekt ein, weil die Zahl der Mandate je Wahlkreis nach der Bevölkerungszahl, nicht aber nach der Zahl der Wahlberechtigten berechnet wird. Dadurch erhält die Stimme eines kinderlosen Wählers in einem kinderreichen Wahlkreis mehr Gewicht als die eines kinderreichen Wählers in einem kinderarmen Wahlkreis. Dies ist ebenso unbefriedigend wie die Tatsache, daß Kinder nur mittelbar über ihre Eltern berücksichtigt werden

Für den Ausschluß von Kindern und Jugendlichen von politischen Bechten werden meist zwei Begründungen genannt: ungenügende politische Bildung und Unreife einerseits, die Möglichkeit des politischen Mißbrauchs andererseits. Den besten Bahmen, Mitbestimmung zu üben, bietet die Kommunalpolitik. In der Praxis ließe sich eine Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen durch die Herabsetzung des Wahlalters bei Kommunalwahlen durch die Landesgesetzgebung auf 14 oder 15 Jahre rasch bewerkstelligen. Kinder darunter könnten ihr Wahlrecht auf ihre Eltern übertragen. Die wichtigsten politischen Mitgestaltungsmöglichkeiten auf Gemeindeebene wie Petitionen, Volksbefragungen, Bürgerinitiati -ven, Volksbegehren und so weiter hängen am aktiven Wahlrecht.

Für die Einführung von kinder-und jugendnahen Kontaktmaßnahmen in der Gemeindeverwaltung wie Gesprächskreise, Mängel-Meldesysteme, Fragestunden würden schon kleine Änderungen ausreichen. Die verpflichtenden Bürgerinformationen müßten bevölkerungsspezifisch -- eben auch kindgerecht -aufbereitet oder das Petitionsrecht auf alle Gemeindebürger ausgedehnt werden. Beispielsweise können sich in Schleswig-Holstein Jugendliche ab 14 Jahren (§§ 16ff. Gemeindeordnung) aktiv an kommunalpolitischen Kommunikationsund Informationsprozessen beteiligen. Ausdrücklich sieht die Gemeindeordnung für diese Jugendlichen eine Mitwirkung beim Bürgerantrag vor, einem Begehren an die Gemeindeverwaltung, das von fünf Prozent der Bürger und Bürgerinnen unterzeichnet werden muß.

Die rechtliche Verankerung von Kindergemeinderäten als Beiräte durch den Landesgesetzgeber wäre ein wichtiger Schritt in Bichtung politischer Mitbestimmung der Betroffenen von heute und morgen. Informell, ohne rechtliche Grundlage, werden solche Modelle schon von vielen österreichischen Gemeinden praktiziert, in Frankreich gibt es eine mehr als zehnjährige Erfahrung damit. Der Bürgermeister der 6.000-Einwohner-Gemeinde Gratkorn (Steiermark) hat vor sechs Jahren selbständige Schulforen zu Kommunalthemen abgehalten. Daraus entwickelte sich die Idee eines Kinder -gemeinderates mit gleichvielen Kindergemeinderäten wie der echte Gemeinderat. Auf Initiative dieses Kin-dergemeinderates wird zum BAspiel eine „Kinderbefindlichkeitsprüfung” durchgeführt.

Das Kinderparlament Bregenz entstand aus einem Arbeitskreis „Kinderfreundliche Stadt”. In der Industriestadt Kapfenberg wurde in Zusammenarbeit mit allen Schultypen und Kindern und Jugendlichen im Alter von acht bis 14 Jahren ein informeller Kindergemeinderat gegründet, der sogar ein Budget erhielt. Gewählt wurden die „Kinder-gemeinderäte” in den Schulen, die Aktivitäten bestanden in einer Be-genwaldaktion, der Planung von Spielplätzen bis zur Entschärfung gefährlicher Verkehrssituationen. Entscheidend für den dauerhaften Erfolg ist die vorbehaltlose Unterstützung durch Politik und Administration. Wenn die Projektverwirklichung nur von ehrenamtlichen Mitarbeitern wahrgenommen wird, drohen gute Ideen zu versickern.

Müssen nun Kinder als „Feigenblatt” einer in der Krise steckenden Demokratie herhalten, fragten sich Beobachter dieser Entwicklung. Diesen ist entgegenzuhalten, daß Rinder ein starkes Problembewußtsein für ihre Umwelt haben. Sie verfügen über Zugang zu Informationen über moderne Medien: Satelliten- beziehungsweise Kabelfernsehen und Computer zählen zu den Grundausstattungen der heutigen Generation.

Werden Kinder und Jugendliche in die kommunale Mitbestimmung einbezogen, müssen die Spielregeln eben auch kindgerecht sein, betont Pichler. Die kommunale Kinderpolitik muß sich am ganzen Menschen ressortübergreifend orientieren. Als „Spielregeln” gelten unter anderem Freiwilligkeit der Teilnahme der Kinder, Begleitung durch Erwachsene, schriftliche Zielformulierung durch die Kinder und so weiter.

Diese Einsichten entsprechen auch dem Sinn der UN-Konvention, die nicht die völlige Gleichberechtigung der Kinder mit den Erwachsenen, sondern die Beachtung der besonderen Bedürfnisse nach Maßgabe der Persönlichkeit des Kindes zum Ziel hat. Ein Schwachpunkt für die Umsetzung der Konvention sind fehlende Sanktionen, wenn man von der Berichtspflicht an die UNO absieht. Von Staaten mit'Bechtskultur, zu denen sich Österreich fraglos zählt, kann erwartet werden, daß sie Vertragsgesinnung zeigen und den Geist der Konvention tragen und vollziehen, meint Pichler.

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