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Wahl gegen die Gleichgültigkeit

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In der Kärntnerstraße 51 wehen die rotwei Broten Fahnen. Und über dem Balkon des Hauptquartiers der Volkspartei bläht sich im Wind das Transparent: „Es geht um Österreich.“ Vom Balkon dieses Hauptquartiers hatte ein strahlender Sieger in der Person von Josef Klaus am 6. März 1966 herabgewunken; es war der Beginn eines Experiments. Dieses Experiment steht am 1. März 1970 als Frage an 5,042.483 Österreicher auf den Stimmzetteln. Dag Experiment einer Alleinregierung nach 21 Jahren großer Koalition wird unterschiedliche Bewertung finden. Immerhin — so weist ein Meinungsforschungsinstitut aus — werden 76 Prozent der ÖVP-An-hänger und 81 Prozent der SPÖ-Anhänger ihrer Partei auf alle Fälle die Treue halten. Sie werden sich nicht an subjektiven oder objektiven Fakten orientieren, die für die Beurteilung des Experiments der Alleinregierung maßgeblich sind. Nach dem Landtagswahl-Ergebnis in Kärnten freilich weiß man um einige Trends Bescheid. Die ÖVP dürfte nicht entscheidend verlieren, die SPÖ sicherlich Stimmen gewinnen, die FPÖ wird Federn lassen müssen.

Die Alleinregierung der Volkspartei hat in vier Jahren kaum einen entscheidenden politischen Fehler gemacht, der in einer unruhigen Zeit die Sicherheit des Staates gefährdet oder die Wirtschaftsentwicklung gestört hätte.

Die SPÖ hat sich seit 1966 loyal verhalten und spielte kaum jemali Opposition um jeden Preis. Und doch haben sich seit 1966 einschneidende Veränderungen ergeben: das Parlament ist aufgewertet worden; die Volkspartei hat für die nächste Legislaturperiode auch schon personelle Konsequenzen für ihren Abgeordnetenklub gezogen; dafür ist der Interessenausgleich der beiden Großparteien und der hinter ihr stehenden sozialen Gruppen vom bündischen Ausgleich der ÖVP abgelöst worden.

In der Volkspartei konnten sich die Arbeitnehmer stärker profilieren als weiland in der Koalition — und die „rechten“ SPÖ-Experten rund um Dr. Kreisky haben fast bereits Maximen der freien Marktwirtschaft In die SPÖ-Programme hineingeschmuggelt.

In diesen vier Jahren haben aufs neuerliche die Sozialpartner bewiesen, daß sie eminente Säulen der österreichischen Hausordnung sind. Diese vier Jahre waren angesichts einer freien Berichterstattung in Rundfunk und Fernsehen auch eine Weichenstellung zur Telekratie. Dieser Wahlkampf wird erstmalig primär in den Massenmedien transparent; und Rundfunk und Fernsehen werden zum ersten Mal in überragendem Maße Königsmacher spielen können.

Die vergangenen vier Jahre waren aber auch gekennzeichnet durch eine zunehmende Entkonfessionalisierung und Entdogmatisierung. Weltanschauliche Motivationen haben vordergründig nicht mehr mitgespielt, und auch die SPÖ hat ihre Klassenkampfparolen nur noch am 1. Mai als Requisit herumgetragen. Und doch: darf der Christ in diesem Land nicht mehr jene Fragen an die Politiker stellen, die ihm zur Beurteilung der Politik in den nächsten Jahren entscheidend scheinen? Die vergangene Zeit mag bei einem

unbefangenen Beobachter fast den Eindruck hinterlassen, als habe man unbewußt alle Fragen des metaphysischen Hintergrunds ausgeklammert; Fragen, deren Lösung nicht zuletzt auch von der ÖVP versprochen wurde.

• Da ist die Strafrechtsreform; ein riesenhafter Komplex, dessen Verabschiedung blockiert wurde und der im Sumpf der Vorbehalte stek-kenblieb. Alle wollen zwar ein neues Strafrecht, aber weder in der ÖVP noch in der SPÖ konnte ein Weg gefunden werden, der dem Bürger einerseits und dem Christen im Bürger andererseits befriedigt. Die Frage der Straf rechtsreform wird in der nächsten Legislaturperiode wieder auf der Tagesordnung stehen; und bis dahin wird weiterhin Lückenhaftigkeit und Anachronismus in Einzelbestimmungen Unsicherheit und Unbefriedigung provozieren.

• Auch die Verfassungsreform ist steckengeblieben. Auch hier sind weltanschauliche Motiviationen im letzten der Grund unüberbrückbarer Gegensätze gewesen.

• Und schließlich war und ist die dringende Reform auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit ein Punkt unerfüllter Hoffnungen und ein Punkt künftiger Auseinandersetzungen. Weder die Subsidiarität noch ein Übergang von der Objekt- auf die Subjektförderung ist befriedigend angepackt worden. Man wird sich fragen müssen, wie die Sozialpolitik der Zukunft aussehen soll und kann: ein an alle verabreichtes Butterbrot oder eine echte Hilfe nach Bedürftigkeit und eigener Leistungsfähigkeit.

All das sind Entscheidungen, die den Österreicher am 1. März bewegen werden; auch dann, wenn seine Kirchen ihm keine Hilfe von den Kanzeln her geben. Entscheidungen, die er allein mit seinem Gewissen auszumachen hat.

Noch ist es freilich nicht so, daß Krisen und Gefahren nicht wieder zum Ausbruch alter Emotionen führen können: Getarnter Atheismus ist allerdings auch keine Basis für die konstruktive Lösung jener Fragen, die vor allem der christliche Staatsbürger gelöst wissen will. Auch dann nicht, wenn ein Linksaußen-Katholizismus sich aufdringlich neuen Partnern an die Brust wirft. Das alles steht am 1. März zur Diskussion. Geht es um Österreich? Nein, wahrscheinlich nicht. Aber es geht doch um mehr, als uns eine unterkühlte Zahnpastapropaganda einreden will. Was wir in diesem Lande nicht brauchen können, sind fragwürdige neo-materialistische Experimente an unerprobten Gesellschaftsmodellen. Sie sind keine Hilfe zur Lösung jener Fragen, die in der Vergangenheit Wunden aufgerissen haben; die in der Gegenwart geschickt ausgeklammert wurden; die aber in der Zukunft gelöst werden müssen. Auch der Christ ist Bürger; und gerade er hat kein Interesse daran, daß in diesem aus der Geschichte atmenden Lande ein keimfreier Gesinnungsneutralismus etabliert wird. Der für alle Teile rlizeptable Konsensus wurde auch anderswo nicht formuliert, wenn auch unausgesprochen praktiziert. Aber man sollte, im Hinblick auf Justiz- und Verfassungsreform, doch bedenken, daß im Vakuum der weltanschaulichen Un-verbindlichkeit nicht einmal Kompromisse zustande kommen können.

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