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Wahrheit in stetem Flub

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Demokratie bedeutet Chancen-und Risikogleichheit aller individueller Meinungen, öffentliche Meinung zu werden. Meinung und Gegenmeinung treten einander frei gegenüber; in Spruch und Widerspruch, in einem ständigen dialektischen Prozeß soll Wahrheit zutage gefördert werden. Jede gefundene und für wahr gehaltene Meinung ist aufzugeben, wenn sie objektiver Kritik nicht standhält. Die Bereitschaft, Platz zu machen, wenn man widerlegt wurde, ist eine demokratische Tugend.

Die Staatsform der Demokratie entstand aus der Opposition des Menschen gegen jede Art von Fremdherrschaft. Da alle Menschen vor der Wahrheit gleich sind, verlangt der einzelne einen Freiheitsraum, der es ihm auch ermöglicht, sein Wahrheitsstreben zu konkretisieren. Dieser Raum hat seine Grenze beim Nächsten, der toleriert und respektiert werden muß, auch wenn er gegenteiliger Auffassung ist. Die Maxime „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist, so verstanden, eine petitio prineipii der Demokratie. Die Verfassungsgarantien der Gedanken-, Glaubens- und Gewissensfreiheit, des Rechtes auf Bildung, der freien Meinungsäußerung, der Freiheit, sich zu versammeln und zu vereinigen, der Vereinsfreiheit und insbesondere der Freiheit der Wissenschaft machen den ursprünglichen Anspruch des Menschen auf Kommunikation in Freiheit und Wahrheit durchsetzbar. Darüber hinaus erfordert die freie Meinungsbildung vielseitige Information durch zumindest relativ unabhängige Institutionen der Massenmedien, Presse, Rundfunk, Fernsehen, Film.

Das essentielle Recht der Demokratie aber ist das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das periodisch ausgeübt wird, um die Herrscher zu kreieren. Diese sind Kontrollen und Korrekturen durch die Beherrschten unterworfen. Der Idee der Demokratie entspräche an sich die Führerlosigkeit. Da alle als Freie und Gleiche herrschen sollen, ist für eine Führernatur in der Idealdemokratie kein Platz. Demgegenüber bemerkt Hans Kelsen, daß das Freiheitsideal der Demokratie, Herrschaftslosigkeit und sohin Führerlosigkeit nicht einmal annäherungsweise realisierbar ist, weil soziale Realität immer Herrschaft und Führerschaft ist. Damit wird aber die Kreation der Repräsentanten und mehr noch die Erziehung zur Demokratie zum Kernproblem der realen Demokratie.

Der Nationalökonom Alexander Mahr, der in seinem jüngsten Werk, „Der unbewältigte Wohlstand“, unter anderem auch das Problem der Bildung einer neuen Elite behandelt, sieht eine Lösung dieses Problems in der Schaffung einer überparteilichen und überkonfessionellen Organisation, „die man etwa als Vereinigung oder Bund für soziale Erneuerung bezeichnen könnte“. Diese Vereinigung könnte unter anderem auch einen wesentlichen Beitrag zur Hebung des Niveaus der politischen Bildung leisten. Mahr wendet sich gegen die einseitig orientierte Erziehungsarbeit parteipolitischer Organisationen und begrüßt es, wenn eine überparteiliche Stelle diese Aufgabe im Interesse der Allgemeinheit übernähme. Für die praktische Durchführung kämen in Betracht Lehrgänge, Vorträge, Diskussionsabende und Beschaffung von gemeinverständlicher Literatur über politische und volkswirtschaftliche Probleme; und natürlich auch Erörterung dieser Probleme in den von der Vereinigung herausgegebenen Zeitschriften und sonstigen Veröffentlichungen. „Auf solche Weise könnten auch in Ländern, in denen die politische Moral heute viel zu wünschen übrigläßt, die Vorbedingungen für eine weitgehende Säuberung des politischen Lebens, Versachlichung des Parteienkampfes und Zurückdrängung der demagogischen Einflüsse geschaffen werden. Dann könnten auch viel eher solche Politiker sich durchsetzen, die redlich bestrebt sind, dem allgemeinen Interesse zu dienen, und mit ihrem Verhalten den Forderungen entsprechen, die an die moralische Elite zu stellen sind.“

Noch mehr ist Mahr zuzustimmen, wenn er für Schulen und Hochschulen vertiefte Ausbildung in den Sozial- und Staatswissenschaften fordert. Nur dadurch kann die angeblich traditionell apolitische Haltung der Intellektuellen gänzlich abgebaut werden. Dazu ist aber auch ein Neubesinnen auf die Idee der Universität notwendig: Die Universität muß sich selbst neu begreifen, muß die Identität mit ihrer Ide finden.

Die Rationalisierung der Politik wurde seinerzeit vom Parlament übernommen und verhinderte eine Primitivierung der politischen und sozialen Technik. In der pluralistischen Gesellschaft von heute wurde diese Aufgabe von den Verbänden, Kammern und Gewerkschaften weitgehend übernommen, von den Parteien weitgehend unterlassen. Hier lebt man noch oft von ideologischen Atavismen, dort setzt sich mehr und mehr eine kritische Einstellung zu politischen Dogmen und Tabus und eine sachlich-fachliche Haltung durch. Rationalisierung und Intellektuali-sierung sind nach Max Weber Eigenheiten unserer Zeit. Er bekämpfte Kathederdemagogie und -prophetie und forderte innerhalb der Universität schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit. Diese Forderung ist nun auch außerhalb der Universität zu stellen. Es ist zu hoffen, daß auf der Basis dieser Rechtschaffenheit die rationale Diskussion, der Lebensnerv der Demokratie, gedeihen wird. Das vernünftige und verständige Gespräch könnte besonders dann den politischen Stil der Zukunft prägen, wenn Universität und Demokratie einander begreifen und fördern lernen. Eduard Baumgarten notiert zu Universität und Demokratie: „Demokratie kann nur herrschen, wo rationale Diskussion herrscht. Insofern in Universitäten Wissenschaft als rationale Diskussion betrieben wird, sind Universitäten neben bestimmten politischen Institutionen Pflanzstätten der Demokratie.“

Für die Realisierung der demokratischen Idee ist ein besonderer Denk- und Lebensstil notwendig: Vitalität und Elastizität des Geistes, Offenheit und Aufgeschlossenheit, ein Denken in Möglichkeiten, Zivilcourage, Toleranz und als Grundhaltung der Vorsatz zur Wahrheit. Die Haltung der Wissenschaftlichkeit, die die Menschen an der Universität zu Kollegialität und Solidarität verbindet, ist also auch ein demokratisches Ideal. Jaspers umschreibt sie als „die Fähigkeit zugunsten objektiver Erkenntnis die eigenen Wertungen für je einen Augenblick zu suspendieren, von der eigenen Partei, dem eigenen gegenwärtigen Willen absehen zu können zugunsten unbefangener Analysen der Tatsachen. Wissenschaft ist Sachlichkeit, Hingabe an den Gegenstand, besonnenes Abwägen, Aufsuchen der entgegengesetzten Möglichkeiten, Selbstkritik. Sie erlaubt nicht, nach Bedarf des Augenblicks dieses oder jenes zu denken und das andere zu vergessen.“

Die rationale Diskussion soll der rote Faden der Demokratie sein; demokratische Politik ist die Kunst des Miteinanderredens. Das Ethos der Demokratie könnte ein neuer Humanismus sein, entwickelt und gelebt aus wissenschaftlicher Haltung, aus schlichter intellektueller Rechtschaffenheit. „Das Ergriffensein von dem grenzenlosen Willen zum Forschen und Klären fördert die Humanitas, das heißt, das Hören auf Gründe, das Verstehen, das Mitdenken auf dem Standpunkt eines jeden anderen, die Redlichkeit, die Disziplinierung und Kontinuität des Lebens.“ (Jaspers.) Universität und Demokratie haben ihrem Wesen nach eine Affinität. Aus dieser Wesensverwandtschaft heraus sind sie aufeinander verwiesen und angewiesen. Wohl klafft eine Kluft zwischen Idee und sozialer Realität. Sie ist ja immer dort am größten, wo Freiheit lebt. Daher scheinen Demokratie und Universität ständig in der Krise zu sein; beide sind Dauerobjekte der Kritik. Beide Institutionen müssen aber immer wieder von ihren Grundideen aufgespürt werden. Denn diese Ideen widerspiegeln die Grundbefindlichkeit des Menschen, seinen existentiellen Dran^ nach Wahrheit und Freiheit,

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