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Wandel durch Urbanisierung

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4. Um für unsere Studie Hinweise zur Erklärung der sozial-regionalen Unterschiede in der religiösen Praxis zu gewinnen, wollen wir noch aus der amtlich kirchlichen Statistik feststellen; wie die Anzahl der Katholiken;' die auf einen Seelsorger kommt, je nach dem Wohnort der befragten Burschen variiert. Dabei fmden wir, daß die Seelsorgesituation in Wien und Niederösterreich die schon, beschriebene Unterschiedlichkeit noch verstärkt und auch weiter zu verfestigen tendiert. Ist nämlich einerseits die Wirksamkeit der kirchen- und religionskritischen Ideen mehr auf die Großstadt und industrielle städtische Agglomeration beschränkt geblieben, so hat sich anderseits die katholische Seelsorge mehr auf die kleineren ländlichen Gemeinden konzentriert. Hiezu schreibt J. J. Dellepoort, daß „die Geistlichkeit dem Zug der Bevölkerung, der durch die Urbanisierung entstand, nicht gefolgt, sondern auf dem Lande zurückgeblieben ist...“. Addiert man alle 197 Wiener Pfarren nach ihref Gläubigenzahl und dividiert man die Summe durch die Zahl der Priester, so erhält man ein durchschnittliches Verhältnis von 3131 Gläubigen auf einen Seelsorge-Priester.

5. Wir können hier zwar nicht ausführen, aber doch grundsätzlich festhalten, daß neben den gezeigten, zahlenmäßig faßbaren Schwächen in der Weiterleitung von Werten und Vorstellungen der Religion durch die Institution Kirche auch noch viele andere Schwierigkeiten bestehen, über die wohl nur ausführliche und spezielle Untersuchungen den entsprechenden Aufschluß geben könnten.

Wir denken hier vor allem daran, daß das Glaubensgut und viele seiner Symbole in geschichtlich der alteuropäischen Kultur angehörigen Formen festgehalten wurden und bedeutende Spannungen zwischen diesen und den in der industriellen Gesellschaft und ihrer Zivilisation üblichen Darstellungsmitteln von Leitbildern bestehen. An Stelle des ruhenden, Symbolkraft besitzenden Bildes ist das bewegliche, nur für den Augenblick giltige und die Realität direkt abschildernde Bild getreten.

Die Ausdifferenzierung der Persönlichkeit durch den Zugang breiter Schichten der Bevölkerung auch zu höherwertigen Kultur- und Zivilisationsgütern hat zu einer weitgehend verschärften Kritik und Eigenbeurteilung gegenüber Normen und Anweisungen geführt, welche früher prinzipiell, das heißt ohne Zweifel oder Infragestellung der Autorität akzeptiert wurden, insbesondere von den unteren, abhängigen Schichten, die ja noch unter dem Eindruck der stärkeren Klassendifferenzierung standen. Besonders auf dem' Gebiet der Sexualethik, die neben Spannungen auf dem Felde der Politik zu den hauptsächlichsten Konfliktstoffen mit der Kirche gehört, ist der Einfluß vieler moderner Massenkommunikationsmittel in einer Richtung und Schattierung wirksam geworden, welche den von der Kirche geforderten und geförderten Lebensformen widerspricht.

Es ist hier nicht der Ort, die Frage danach zu beantworten, wie weit solche Konfliktgeladenheit sekundärer Natur ist und auf unange-paßten Auslegungen der christlichen Überlieferungen beruht, doch erschiene es uns als besonders dringlich, gerade durch die Fragen der speziellen Konfliktfelder, die zwischen Jugendlichen und kirchlicher Anschauung und Anleitung bestehen, durch konkrete Einzeluntersuchungen zu durchleuchten. Auch die Frage der Wissenschaft und ihrer Erkenntnisse sowie der Technik und der Benützung ihrer Mittel müßten zu den möglichen Konfliktbereichen gezählt und im einzelnen auf Ausmaß und Ursache hin studiert werden.

Die Behandlung dieses Themas führt häufig dazu, daß Zusammenhänge zwischen religiöser Praxis und Familienverehältnissen in Richtung einer Abhängigkeit der religiösen Praxis der Kinder und Jugendlichen von den in der Familie erlebten Vorbildern sichtbar werden. Um solche Ergebnisse jedoch nicht zu überschätzen, sei festgestellt, daß. verglichen mit der Abhängigkeit von Kindern oder Jugendlichen bei der Ausübung der religiösen Praxis, nicht eine völlige Selbständigkeit des religiösen Lebens von Erwachsenen angenommen werden darf. Einen solchen Vergleich bezeichnet Theophil Thun in seiner Studie über „Die Religion des Kindes“ als unzulässig, „weil bei einer nüchternen Betrachtung dieser Begriff der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Erwachsenen unangemessen ist und allenfalls als Idee, als selten realisierte Möglichkeit ... gelten kann“.

Allerdings scheint auch für das Ausmaß der religiösen Praxis unserer Halbwüchsigen die Einstellung der Eltern ein wichtiger Faktor zu sein, denn jene Burschen, die regelmäßig zur Kirche gehen, haben weit häufiger angegeben, daß ihre Eltern ein Gebetbuch besitzen, als diejenigen mit geringerer Bindung an die Kirche:

Anteil der Eltern, die ein Kirchgang Gebetbuch besitzen

regelmäßig (N = 165) 89 % gelegentlich (N = 194) 67 % nur zu den hohen

Feiertagen (N — 56) 65 % fast nie (N = 328) 30 %

Natürlich ist es auch denkbar, daß die Jugendlichen, die fast nie zur Kirche gehen, sich gerade für die in der Ausübung der Religion verwendeten Gegenstände der Eltern weniger interessieren. Daher mag bei diesen die Angabe, daß die Eltern ein Gebetsbuch besitzen, hinter dem tatsächlichen Besitz zurückbleiben.

Die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen religiöser Praxis und Familienverhältnissen hat uns aber auch in mehrfacher Weise überraschende Ergebnisse gebracht. So sind keine starken Unterschiede zwischen den Burschen aus geordneten und normalen Familienverhältnissen (57 Prozent aller Befragten) und denen aus Familienresten und so weiter hervorgetreten.

Anderseits ergab sich eine sehr deutliche Beziehung zwischen den Berufen der Eltern und der religiösen Praxis ihrer Söhne. Diese Beziehung trat besonders bei der Mutter sehr stark hervor, die ja überhaupt, wie in diesem Kapitel noch näher zu zeigen sein wird, für die religiöse Praxis des Sohnes durchschlagende Bedeutung besitzt.

Betrachten wir zunächst den Beruf des Vaters in seinem Zusammenhang mit der religiösen Praxis der Söhne. Insgesamt zeigen die Söhne der Landwirte und der Hilfsarbeiter die intensivste religiöse Praxis, die der Privatangesiell-ten und der Facharbeiter die geringste. Aus der Bestätigung dieser Reihenfolge durch die verschiedenen Manifestationen der religösen Praxis läßt sich, wenn auch die Unterschiede im einzelnen nur selten signifikant sind, eine soziologische Erkenntnis ableiten, die sich ganz in das Bild fügt, das wir aus der Aufgliederung nach Gemeindetypen gewannen. Industrie und zentrale Funktion des Ortes scheinen der Religionsausübung abträglich, Landwirtschaft und unqualifizierte Arbeit ihr „förderlich“ zu sein. Auch ist zu bedenken, daß, besonders in der ländlichen Region, der Hilfsarbeiter wohl In vielen Fällen aus der Landwirtschaft stammt, aus Familien von Bauern oder Landarbeitern.

Selbst innerhalb ein und derselben Wohnregion differiert der Kirchenbesuch der aus verschiedenen sozialen Schichten stammenden Burschen, wobei jeweils die Söhne von Facharbeitern die geringste religiöse Bindung aufweisen.'

Bei der Mutter ist der Zusammenhang zwischen ihrem Beruf und der religiösen Praxis der Söhne statistisch gesehen noch viel zwingender als beim Vater. Im großen und ganzen entspricht er dem Bild, das schon durch die Väterberufe geboten wurde. An erster Stelle stehen unter den Müttern, die Söhne mit starker religiöser Praxis haben, die Bäuerinnen und an zweiter diejenigen, die im Haushalt tätig sind. Mütter, deren Söhne eine schwache Intensität der religiösen Praxis zeigen, gehören der Gruppe der Privatangestellten und der Facharbeiterinnen zu.

Führen wir uns den Zusammenhang zwischen Mütterberuf und religiöser Praxis der Söhne tabellarisch vor Augen, so springt dabei gleich heraus, daß sich die ständige Anwesenheit der Mutter im Haushalt auf den Gottesdienstbesuch (wohl durch Ermahnung und Beispiel) stärker auswirkt als auf den Sakramentenempfang.

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