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Wann neuntes Schuljahr?

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In der Regierungskoalition ÖVP und SPÖ war die Verlängerung der Schulpflicht auf 9 Jahre seit jeher unbestritten. Strittig war die Einstufung des sogenannten 9. Schuljahres: Die konservativen Kräfte verlangten die Wiederherstellung der vor 40 Jahren bestandenen fünf-stufigen Volksschule; den Sozialisten schien die Aufstockung der Hauptschule wichtiger zu sein. Ich habe anders gedacht:

In einer Zeit, in der man in den USA oder in der UdSSR bereits daran ist, den Kindern die Elementarkenntnisse in Lesen, Rechnen und Schreiben im frühen Kindesalter und vor dem Besuch der Elementarschule beizubringen, wäre die Wiedereinführung der 5. Volksschulstufe, also die neuerliche zeitliche Ausdehnung des Elementarschulwesens, ein reaktionärer Akt ohne Zweck und ohne jedes Ziel.

Die Einfügung des 9. Schuliahres in den Stufengang der Volks- und Hauptschule hätte den damit verbundenen erhöhten Sachaufwand (Klassenraum) den schulerhaltenden Gemeinden aufgelassen. Diese Folge ist bei den Schulgesetzverhandlungen von konservativen Kreisen in den Bundesländern trotz wiederholter Mahnung kaum in Erwägung gezogen worden; sie haben fast ausschließlich die Verlängerung des Elementarschulwesens verlangt und erst bei der Durchführung der Schulgesetze 1962 realisiert, wie kostspielig schon der diesbezüglich halbe Mehraufwand in der Sachausstattung der Schulreform, der sie jetzt trifft, für die Gemeinden und Länder ist. Nachträglich betrachtet, erscheint schwer verständlich, daß Sprecher der Länder und Gemeinden, die vor 1962 das 9. Schuljahr in Stadt und Dorf haben wollten, jetzt wegen der von mir eingeführten nur teilweisen Erhöhung des Sachaufwandes die Untragbarkeit der Reform präsentieren und sich damit, gewollt oder ungewollt, in das Bündnis mit jenen begeben, deren wirtschaftliche und politische Zielsetzung im letzten Jahrzehnt von der Erwartung geleitet gewesen ist, es brauchte keine Schulreform; so gut wie es ist, wird es niemals mehr werden.

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Der österreichische Unterrichtsminister des Jahres 1969 ist nicht vom Kaliber seines Amtsvorgängers ex 1883. Es kommt aber nicht nur auf die Courage des Unterrichtsministers an, sondern darauf, daß nicht (wie 1883) anstatt einer „regierenden Regierung eine regierte Regierung“ (Sueß) amtiert. Eine regierte Regierung, die unter dem Druck der Verbandsinteressen und in der Kollision der Rangordnung der Staatsaufgaben die Kontrolle der Schulreform aus der Hand gibt und sie einem in gewissen Stabsquartieren vorbereiteten und inszenierten Volksbegehren überläßt. Das 13. Schuljahr kann durchgeführt werden. Das besagt nicht nur der Bericht des Unterrichtsministers, der so klar ist, daß die da gegenlaufenden Argumente nur dann haltbar bleiben, wenn die kulturpolitische Motivation der staatlichen Kulturpolitik keine Geltung haben soll.

Die Schulreform 1962 erfolgte parallel zu der von mir 1952 als Leiter der Hochschulsektion in Gang gesetzten Hochschulreform. Die Reform des Hochschulwesens mit dem Ziel einer Konzentration, einer Zweistufigkeit der Graduierung sowie einer Verkürzung des Fachstudiums ist aber nur unter der Voraussetzung denkbar, daß das allgemeinbildende Höhere Schulwesen für die Hochschule keine unlösbaren Aufgaben auf dem Sektor der Allgemeinbildung übrig läßt; Aufgabenstellungen, wie die 1945/55 unter angelsächsischem Einfluß in Westdeutschland praktizierten Experimente des College-Systems und des Studium generale der Hochschule vergeblich anlasten wollten. Die Schulreform 1962 bringt das Ausmaß der Vorbereitung zum Hochschulstudium nach einer 40jährigen Rezession erst wieder auf den Standard, den fortschrittliche Industrieländer während eben dieser 40 Jahre nunmehr längst erreicht haben. Es wäre Utopie zu glauben, man könne die Fachausbildung der Experten an der Hochschule zeitlich kupieren und gleichzeitig im allgemeinbildenden höheren Schulwesen ein ähnliches Experiment aufführen. Auf ein solches Experiment ließen sich in der BRD nicht einmal freiheitliche Politiker mit Linksanschluß vom Schlage Dahrendorf ein.

Und: Mag für die Entwicklung der Produktion die Formel RASCHER, KÜRZER, BILLIGER Geltung haben, mag es bis zu einem gewissen Grad möglich sein, den Menschen auf diese Formel einzustellen; an einem Punkt geht diese Formel nicht auf. Dort,

• wo der Industriestaat nicht mehr ist, als bloße „Manufaktur, Meierei, Assekuranzanstalt, merkantile Sozietät“ (Adam Müller) und

• eine vom „modernen Sachglauben gestörte Innerlichkeit“ (Franz Wer-fel) das „Gefühl der Lebensleere“ (Lescek Kolakowski) entstehen läßt. Für die Existenz des Menschen in der industriellen Gesellschaft ist es notwendig, daß er rechtzeitig deren „uncomfortable collectdvistic and •nonopolistic aspect“ erkennt und darnach das Industriesystem mit einem ebenso ausgegliederten Bildungssystem ins Gleichgewicht gebracht wird. Dieses Bildungssystem ist darauf abzustellen, im Menschen die Fähigkeit zum selbständigen Denken und zur Kritik zu erwecken und die Courage für die Existenz im Pluralismus. Es geht nicht darum, „to isolate aperience, sondern to inte-grate, to have an opinion“. Erst dann werden die Ultras aufhören, aus der industriellen Gesellschaft auszuziehen oder die Revolution für ihre Zerstörung vorzubereiten.

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