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Warum Lateinunterricht?

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Die Frage nach Sinn und Zweck des Unterrichts der klassischen Sprachen, besonders des Lateinischen, ist alt: sie wurde beispielsweise besonders heftig diskutiert nach der Gründung der ersten Republik und führte auch zu Interimslösungen (Deutsche Mittelschiffe' usw.) von durchaus nicht langem Bestand — und sie steht gerade jetzt wieder im Mittelpunkt zahlreicher polemischer Betrachtungen in Presse, Rundfunk und verschiedenen Arbeitsgemeinschaften, ehe noch das Schulgesetz geboren ist.

Die Aktualität dieser Frage kann also heute gar nicht mehr geleugnet werden, zumal ihre Entscheidung von schicksalschwerer kulturgeschichtlicher Bedeutung ist. Aber man sollte bei gerechter Rückschau schon manches gelernt haben — schon beim erziehungswertenden Vergleich aller lateinfeindlichen Schultypenschaffungen mit der guten alten österreichischen Mittelschule (Gymnasium und Realgymnasium) vor 1927. Es war bestimmt die schlechteste Lösung nicht, die sich seitdem weitestgehend an die alten humanistischen Schulformen angelehnt hatte, bis das Jahr 1938 wieder aus verschiedenen, aber stets klar erkennbaren Motiven vom humanistischen Bildungsideal energisch abrückte.

Es geht hier nicht an, mit den erbitterten Gegnern der klassischen Sprachen zu rechten: wir stellen bloß fest, daß sich ihre Ablehnung im allgemeinen auf die vorwiegend utilitaristische Frage des Wozu reduzieren läßt, als ob es sich beim Lateinunterricht lediglich um die rein äußerliche Bewertung erlernbarer handwerklicher Fähigkeiten und praktisch verwertbaren Wissens handelte, das „allenfalls Ärzten, Juristen, Theologen und unter Umständen noch Apothekern zugute komme“. Ein wenig großzügiger erscheinen immerhin die Urteile derer, die der Kenntnis der lateinischen Sprache den Vorteil „leichterer Erlernbarkeit moderner romanischer Fremdsprachen und des Englischen“ zubilligen: hier fühlen wir wenigstens einen leisen Schimmer, einen zarten Hauch sprachpsychologischer Einsicht.

Heute werden wir mit der Betonung des herrlichen humanistischen Bildungsideals und mit dem Hinweis auf die prachtvollen formbildenden Werte der klassischen Sprachen allein die wuchtende Phalanx der Gegner wohl kaum mehr durchbrechen können. Wir müssen bekennen, daß der alte Konflikt zwischen humanistischen und realistischen Bildungsgedanken in dieser Zeit zum flammenden Spiegelbild welterschütternder geistesgeschichtlicher Auseinandersetzungen geworden ist, als letzte Konsequenz der einmal vollzogenen tragischen Bahntrennung geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Disziplinen.

Wtr können heute das starre kau-salistisch-utilitaristische Wertungssystem, das sich in den Jahrhunderten vorwiegend naturwissenschaftlich ausgerichteter Lebensformung entwickelt hatte, eben nicht mehr wegleugnen, und wir müssen deshalb — wollen wir uns den Gegnern aus diesem Lager überhaupt verständlich machen — mit Wertargumentationen aufwarten, die sie bei noch so unelastischer Betonung ihrer Ansichten und bei noch so hartnäckiger Anwendung ihrer Maßstäbe respektieren, wenn nicht anerkennen müssen.

Diese Beweisführung muß aber auf einer Plattform liegen, die gleichzeitig Brücke zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ist, auf einer Basis also, die eine völlig unparteiliche Beurteilung des Lateinunterrichts zuläßt: und diese sichere Grundlage vermag uns der sprachpsychologische Aspekt zu liefern! Man mag uns von eigener Seite einwenden, daß diese Betrachtungsweise durchaus nicht neu, eher alt und selbstverständlich sei. Was aber uns selbstverständlich ersdieint, wurde scheinbar von der Gegnerschaft bisher niemals erkannt, da anders die auf einseitigen Voraussetzungen basierende Ablehnung nicht erklärlich wäre.

Wir müssen also versuchen, auf die psychologischen Werte des Lateinunterrichts hinzuweisen, wobei wir wohl eingestehen, daß bislang vielleicht in Wertung und Unterricht die rein linguistische Betrachtung, die Behandlung des Lehrstoffes vom „objektiven, vom Gebildeaspekt“ vor der psychologischen Behandlung, also vom „subjektiven, vom Funktions- und Prozeßaspekt her“ — um mit Friedrich K a i n z zu reden — vorherrschte. Sehen wir den Wert der lateinischen Sprache unter dem rein psychologischen Blickwinkel und suchen wir ihn nach dem Maße der geistigseelischen Leistung und der dynamischen persönlichkeitsbildenden Kräfte zu bestimmen, dann gewinnen wir bedeutend an Schlagkraft gegen alle utilitaristischen Vorstöße, da von Seite der Gegner wohl kaum mit auch nur annähernd blanken Waffen gefochten werden kann.

Der vorgeschriebene Rahmen duldet nur knappe Hinweise auf die wichtigsten Momente, die man künftig energischer ins Treffen führen müßte. Zunächst noch eines: die eben angeführten persönlichkeitsbildenden Kräfte sind den oft betonten formbildenden Werten engstens benachbart, verhalten sich aber zu ihnen wie etwa innere zu äußerer Form, wie Gehalt zur Gestalt, wie endogener Grund zu noetischem Oberbau und ähnliches. Darauf wollen wir deshalb mit besonderem Nachdruck deuten, da eine oberflächliche Kritik nur allzu leicht gerade diesen formbildenden Werten die mit die Sprache zur eigentlichen Stütze des Gedanken wird — und daß gerade die psychologische Eigenart des Lateinischen ausgezeichnete Mittel für den Gedankenformulierungsvorgang aufweist.

Jeder begeisterte Lateinlehrer — der also auch seine Kinder zu begeistern versteht — wird zugeben, daß die Kinder im 11. und 12. Lebensjahr ungemein aufgeschlossen sind für den Erwerb prägnanter Sprachschemata, während sie in den Jahren der beginnenden Reiferevolution nicht mehr in gleicher Weise geeignet erscheinen, eine elementare Denkdisziplinierung anzunehmen. Man darf gar nicht übersehen, daß die Urheber des alten humanistischen Mittel-schullehrplans bestimmt bessere Psychologen waren — wenn auch nicht so programmatisch betont wie heute — und mehr Einblick in die geistige Kapazität des Kindes hatten, als man gegenwärtig allgemein schlechthin zugeben möchte, ganz abgesehen davon, daß sie ihrerseits auf dem soliden Boden jahrhundertealten mittelschulpädagogtschen Erfahrungsgutes aufbauen durften. War denn die ehemalige angebliche „Hypertrophie“, die „Uberbewertung“ des Lateinunterrichts in den ersten beiden Gymnasialklassen wirklich so unklug? Ganz im Gegenteil — diese Anforderungen, die damals an uns gestellt worden sind, erzogen uns rechtzeitig zu einer Behendigkeit der Gedankenformulierung, zu einer Prägnanz des sprachlichen

V e r bildung der muttersprachlichen Form, die Latinisierung unserer Hochsprache vom einfachsten Formelement bis zu den weitesten Fügungsspannungen vorgeworfen hat. Unsere Gedankengänge bewegen sich aber in höherer Sphäre und zielen eben auf jene psychologischen persönlichkeitsbildenden Werte der lateinischen Sprache ab, die man bei einer auch nur halbwegs objektiven Beurteilung einfach nicht wAjzudenken vermag!

Wir müssen wissen, daß der moderne Lateinunterricht in unserer Zeit bereits die ideale Synthese von Unterricht und Erziehung darstellt, daß er längst den Weg von einer ausgesprochenen Wissens- und Kenntnisvermittlung zur Persönlichkeitsbildung gefunden hat und ihm somit Aufgaben zukommen, die kein anderes Fach in annähernd treffsicherer Weise durchführen kann: das Kind nämlich planmäßig durch Stilprägnanz zur Denkpräzision zu erziehen, ihm durch auswählende Darbietung hervorragender und einmaliger Denkschemata gewissermaßen E n-g r a m m e zu verschaffen, die es im Laufe seiner weiteren psychischen Entwicklung leicht mit durchaus persönlichem Inhalt zu erfüllen vermag, und durch die es befähigt wird, rasch und sicher, klar und deutlich, frei und persönlich seinem Gedankenfluß Richtung und Ziel zu geben. Ohne hier bestimmte psychologische Methoden und Systeme befolgen zu wollen, müssen wir doch anerkennen, daß sich uns, schon während wir einen Gedanken fassen, die Mittel seiner Formulierung aufdrängen, daß so-

Ausdrucks und zu einer Schärfe der Begriffsbildung, Eigenschaften, die letztlich die wertvollste Grundlage einer eindeutigen und klaren Dialektik im interindividuellen Verkehr bieten.

Der rechtzeitige Einsatz des Lateinunterrichts im Realgymnasium könnte aber — von unserem Gesichtspunkt aus betrachtet — etwas wie eine „vorbeugende Therapie“ gegen eine drohende babylonische Sprachverwirrung bedeuten, die wohl nicht zuletzt auch auf die psychische Infektion der Menschheit durch die fortschreitende naturwissenschaftliche und naturalistische Analysis und Spezialisierungssucht zurückzuführen ist. Wir aber vermöchten es unter einem, durch Erziehung zu einer wahren und edlen „Humanitas“ des sprachlichen Ausdrucks den Weg zu einer „stillen Einfalt und edlen Größe“ der gesamten sozialen Ausdrucksformen zu ebnen.

Abschließend sei noch unter diesem Aspekt auf einen grundsätzlichen Fehler des gegenwärtigen provisorischen Mittel-schullehrplans hingewiesen: uns liegt fern, die ablehnenden Tendenzen seiner Haltung dem Lateinunterricht gegenüber im einzelnen zu beleuchten; Tatsache aber ist für unsere Betrachtung sicher, daß er die Jugend zwingt, einen sprachpsychologisch etwas holprigen Pfad zu beschreiten. Denn sie wird erst zu jenem wunderbaren „respice finem!“, zu jener unnachahmlichen sprachpsychologischen Ganzheitlichkeit der Gedankenformulierung erzogen, nachdem sie zwei Jahre lang (und noch dazu in den entscheidenden Jahren der Entwicklung!) durch eine — ganz anderen inneren Gesetzen gehorchende — moderne Fremdsprache für diese scharfe Sprachendisziplin verdorben worden ist.

Wir müssen uns wohl wieder irgendwie dem guten alten sprachpsychologischen und sprachpädagogischen Mittelschulweg Österreichs nähern — eventuell mit folgendem Zugeständnis an die Reformatoren und solche, die es zu sein vermeinen: daß nach einer ausgedehnten lateinischen Sprachdenkschulung in den Elementarklassen später weitest Raum gegeben wird den modernen

Fremdsprachen, für deren Erlernung die Jugend solcherart hervorragend vorgebildet worden ist — ausgestattet m't dem sicheren Blick für das Wesentliche, Markante, das Eigenartige und Unterschiedliche im neuen konkreten Sprachgebilde.

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