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Was will die Mittelschule?

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Die Mittelschule ist heute in einer schwierigen Lage. Die Schüler und vielleicht mehr noch die Eltern jammern über die Ueberbürdung der „armen Kinder“, und die Hochschullehrerschaft klagt, die Mittelschüler „brächten nichts .mit”. Da stimmt also etwas nicht.

Ein Obergymnasiast tat einmal gegenüber seinen engsten Vertrauten den klassischen Ausspruch: „Vor lauter Büffeln komme ich nicht zum Lernen.“ Damit ist der Finger an die gefährliche Wunde gelegt, an der die Mittelschule leidet. In weitesten Kreisen wird immer noch „allgemeine Bildung“ mit „Enzyklopädismus“ verwechselt. Wie oft wird geklagt: „Da plagt sich das arme Kind mit Vergil, der sphärischen Trigonometrie und so vielen Jahreszahlen in der Geschichte, und alles nur, damit das alles in Kürze vergessen wird.“

Solchen Vorwürfen ist die oben angeführte völlig falsche Gleichstellung zugrunde gelegt, und da wäre es wohl an der Zeit, daß sich auch weitere Kreise ernstlich die Frage vorlegen: Was wollen denn die allgemein bildenden Schulen (Mittelschulen)?

Es leuchtet sofort ein, daß das Ziel der Mittelschule weder in der Erwerbung von Elementarkenntnissen (Volksschule) noch in jener von Fachwissen, sei es nun wissenschaftlichtheoretischer Einstellung (Hochschule) oder rein praktischer Richtung (Fachschulen), liegen kann. Ja, was bleibt denn dann noch übrig?

Die Mittelschule ist nicht dazu da, ein Wissen zu vermitteln, wie man es etwa durch Auswendiglernen eines kleinen Konversationslexikons erwerben könnte, sondern sie soll das heranwachsende Menschenkind „allgemein bilden“, soll es so weit bilden, daß es mit Verständnis den Anforderungen des modernen Lebens zu folgen vermag, daß es selbst darüber entscheiden kann, nach welcher Richtung es einer Sonderausbildung bedarf, wo und wie man diese gewinnen kann. Dię Kenntnisvermittlung ist also nicht Selbstzweck, sondern ihr Ziel sind die mit fieser Keijntn yermittlung mögjw» liehen erziehlichen Auswirkungen. Die Kenntnisse selbst sind nur Mittel zum Zweck.

Was für den Körper heilsam ist, die gleichmäßige, stetige, turnerische Durchbildung, die den Leib nicht nur jederzeit gebrauchsfähig, sondern vor allem auch frisch und fähig hält, im Bedarfsfälle besondere Leistungen aus sich herauszuholen, das gilt in gleicher Weise für die geistige Durchbildung. In diesem Sinn gibt es kein schöneres und wahreres Wort für die Mittelschulen aller Art als den alten Namen „Gymnasium“, ein Name, der bekanntlich von den griechischen Ringerschulen (etwa unseren Turnschulen entsprechend) genommen wurde. Ja — eine geistige Turnschule, das ist das große, nicht zu unterschätzende Ziel unserer Mittelschulen. Die Schüler sollen allmählich ihre geistigen Fähigkeiten mit vollem Bewußtsein gebrauchen und verwerten lernen, sie sollen in allen Methoden geistiger Betätigung geübt und geschult werden. Dazu ist natürlich nötig, daß die Arten der geistigen Betätigung den Schülern an den verschiedensten Objekten, das heißt an verschiedenen Erkenntnisgebieten, deutlich werden, und n u r in diesem Sinn hatte die Kenntnisvermittlung in der Mittelschule ihren grundsätzlichen Wert.

Gewiß werden manche den Kopf schütteln und sagen: „Wo sollen Erziehungswerte liegen, wenn die Ideale der Antike heute ihre Bedeutung längst eingebüßt haben, wenn die Ideen fremder Völker immer nur fremd auf uns wirken? Und wo liegt der Erziehungswert, wenn in Mathematik so und so viele Formeln auswendig gelernt werden oder in der Geschichte immer nur deutlich wird, daß die Völker nichts aus ihr gelernt haben? Wie sollen Naturgeschichte und Chemie usw. usw. erziehlich wirken?“

Auch bei solchen Erwägungen wird immer nur die Summe der Kenntnisse in den einzelnen Wissenschaften im Auge behalten, nie aber der Arbeitsmethoden und der ethischen Grundlagen alles Erkennens gedacht. Und gerade diese sind es, die den Bildungswert der Mittelschule beinhalten.

Kein Mensch denkt heute daran, die Ideale des alten Griechenlands auch für uns als die letzten Ziele hinzustellen. Aber ihre Kenntnis ist darum doch nicht zwecklos, weil gerade durch den unwillkürlichen, aber auch durch den beabsichtigten Vergleich mit unseren Zielen und Zukunftshoffnungen erst die inneren Werte der verschiedenen Kulturepochen sich gegenseitig verdeutlichen und klären. Im anderen sich erkennen und der eigenen Wesensart bewußt werden, ist eine der wertvollsten Errungenschaften, die aus dem Studium andersartiger Kulturen gewonnen wird.

Analog ist es auch bei der Vermittlung moderner Kulturen durch das Mittel moderner Fremdsprachen. Fremde Sprachen lernen, in ihre Wesenheit einzudringen suchen, heißt die Seele des anderen Volkes grüßen. Wenn wir die Psyche anderer Völker besser erfassen lernen, ersparen wir uns damit viele Mißverständnisse, vielleicht auch vieles Leid.

Andere Kulturen richtig schätzen lernen, um vor allem sich selbst richtig einzuschätzen, das ist eine der Hauptaufgaben, welche die sogenannten humanistischen Fächer in unseren Mittelschulen durchzuführen haben.

Bei dieser Art der Einstellung spielen natürlich die vielfachen „Querverbindungen" zwischen den einzelnen Unterrichtsfächern geradezu die Hauptrolle. Die Schüler lernen sehr bald begreifen, welche großen Hilfen für eine verständige Aneignung von Wissen in dieser logischen Ausnützung von Beziehungen zwischen den einzelnen Wissensgebieten liegt, und werden dadurch von der zunächst kindlichen Leistung rein mechanischen Gedächtnisses zu dem für jede geistige Arbeit so wichtigen logischen Denken und Gedächtnis erzogen.

Erst dadurch wird es möglich, dem Schüler in den einzelnen Fächern jenes Baumaterial in die Hand zu geben, aus dem er sich später, in den Tagen der erlangten inneren Reife und Klärung, seine Weltanschauung aufbauen kann.

Was die Schule in diesen Fällen zu geben hat, sind die Einzelbausteine, die Werkzeuge,’ das heißt die Arbeitsmethoden, die Beispiele, das heißt die verschiedenen Versuche, ein einheitliches Weltbild zu gewinnen. Was sie nicht zu geben hat, ist das individuelle Weltbild selbst. Verlangt man aber von einem allgemeingebildeten Menschen, daß er sich seine Weltanschauung mit den Mitteln eben der allgemeinen Bildung zurechtzimmert, dann genügen nicht Bausteine, nicht Beispiele, dann muß der einzelne diese auch verwerten lernen, er muß mit den geistigen Werkzeugen umgehen können, das heißt, er muß die verschiedenen Denkwege und -metho- den kennenlernen, die ihm dann gestatten, sich zur Zeit sein Weltgebäude nach seinem Geschmack einsturzsicher und wohnlich aufzurichten.

Ein alter, erfahrener Schulmann formte, halb im Scherz, mehr noch im Ernst, diese Zielsetzung in dem etwas seltsamen Satz: „Der Mittelschüler soll das Lernen lernen.“ Er wollte damit sagen, es sei nicht die Aufgabe der Mittelschule, die letzten Errungenschaften von Wissenschaft und Technik in die noch unreifen Hirne der Mittelschüler hineinzustopfen, sondern ihnen die Mittel und Wege zu weisen, ihnen die Methoden näher zu bringen, wodurch sie allmählich zu einem Fachstudium vorrücken können. Es kommt weniger auf die Einzelheiten an als auf die Zusammenhänge. Es kommt darauf an, hinter der Außenseite der Dinge ihren Wesenskern zu erfassen oder wenigstens zu ahnen, offene Augen für die Umwelt zu gewinnen, offene Ohren für die feinen Stimmen der Objekte, für die Harmonie des flutenden Lebens.

Und wenn die Mittelschüler nach ihrem Austritt alles vergäßen, was an Einzelheiten einmal durch ihr Gedächtnis gewandert ist, wenn sie nicht einmal die handwerklichen Grundlagen wieder fänden, eines bleibt ihnen unverlierbar: die geistige Reifung, die seelische, begründete Einstellung, jener undefinierbare Schliff, der erst den Kiesel zum Edelstein macht, und außerdem noch die Sicherheit, im Bedarfsfälle mit leichter Mühe auch das rein Konkrete wieder lebendig zu machen.

Dazu ist nun nicht allein die humanistische Fachgruppe befähigt, das liefert genauso gut auch die Gruppe der realistischen Fächer. Oft wird gesagt, die Begabungen für diese beiden Fachgruppen seien so- grundverschieden, daß es für den '’Durcbschnittsschuler immer eine Qual sei, durch eine Schule gehen zu müssen, die beide Fachgruppen' in žiemhcii gleichmäßiger Verteilung umfasse, wie dies eben in den Mittelschulen der Fall ist. Das Weltbild eines gebildeten Menschen darf aber nicht falsch sein, wie ein gemaltes Bild oder ein Relief, sondern rundum erfaßbar, wie eine Statue, eine Medaille. Man sähe die Welt nur halb, beschaute man sie mit den Augen des Humanisten oder Realisten allein. Es gehört geradezu zum Wesen der allgemeinen Bildung, daß man, von verschiedenen Seiten ausgehend, doch zu dem gleichen Weltbild kommt, vielfältig in seinen jeweiligen Beobachtungsrichtungen, einfach in seiner Wesenheit. Ein wahrhaft gebildeter Mensch wird Einseitigkeiten zu vermeiden trachten, er wird sich bemühen, eine Weltanschauung zu gewinnen, die jeder Kritik von jeder Seite gerecht wird.

Hat die humanistische Seite mehr die künstlerisch-logische Seele erfaßt, so ergibt die realistische Seite die Notwendigkeiten, die Gesetzmäßigkeiten, die unerbittlichen Zusammenhänge von Grund und Folge, die Kausalität. Heben uns die Geisteswissenschaften stolz zu den Sternen, so lehren uns die Naturwissenschaften Bescheidenheit und Einfügen in die Umwelt, sie lehren uns auch jenen Begriff der Wahrheit, der, frei von allem Gedanklichen, in der Anerkennung und Schätzung des Gegebenen, des Tatsächlichen gegenüber den daraus abgeleiteten, subjektiven Schlußfolgerungen liegt.

So schafft gerade das Zusammenwirken von humanistischer und realistischer Bildungsarbeit jene innere Harmonie, jenes Verstehen und Sichbescheiden, jenes gläubige Hoffen und wissende Vertrauen, das den Wertmenschen kennzeichnet und das die wahre Frucht der allgemeinen Bildung ist.

Es &t effie hohe Aufgäbe, die zu lösen' die Mittelschule berufen ist. Diese Mittelschule, die den schwierigen Uebergang von der Grundschule zur Hochschule zu vermitteln hat, ist dem erziehlichen Wert nach vielleicht die kostbarste Einrichtung unseres ganzen Schulwesens und soll auch so verstanden — und gebraucht werden.

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