Weiblicher Gipfelsieg am Bücherberg

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Der Schulverlauf ist stark von der Lesefähigkeit abhängig. Mädchen sind im Lesen besser als Buben. Doch der geschlechtsspezifische Unterschied hat nichts mit dem Geschlecht zu tun.

Mädchen spielen mit Puppen, Buben mit Baukränen, Mädchen nähen, Buben kämpfen. Derlei Rollenzuschreibungen sind auch im Bildungswesen zu Hause. Die Klischees: Mädchen haben ein Talent für das Lesen, Buben für Mathematik und Naturwissenschaften.

Verstärkt werden solche Stereotypen durch die unkommentierte Darstellung einschlägiger Studien wie PISA (Programme for International Student Assessment). Diese weist in der Tat bei den untersuchten 15- bis 16-Jährigen Vorsprünge für Mädchen im Lesen und für Buben in Mathematik auf (in den Naturwissenschaften gibt es keine statistisch relevanten Unterschiede). Allerdings besteht die Gefahr, daraus vorschnell auf die Ursachen für die Unterschiede zu schließen. Dies zeigt sich bei Mathematik, die zu beherrschen gerne als - vorwiegend Männern - angeborene Fähigkeit betrachtet wird. Tatsächlich gibt es wenige Spitzenmathematikerinnen. Die renommierte Fields-Medaille etwa erhielten seit ihrer ersten Verleihung 1936 ausschließlich Männer. Eine gängige Erklärung für dieses Ungleichgewicht besagt, dass Männer eine größere Variabilität ihrer intellektuellen Fähigkeiten aufweisen. Vertreter des starken Geschlechts erbringen demnach häufiger als Frauen Spitzenleistungen, befinden sich gleichzeitig aber häufiger am unteren Ende der Leistungsskala. Frauen hingegen liegen vorwiegend im breiten Mittelfeld. Noch deutlicher biologisch argumentiert der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth. Er weist darauf hin, dass in Frauengehirnen die für sprachliche Leistungen zuständigen Areale größer und besser durchblutet sind als bei Männern. Zusätzlich verstärke ein hoher Östrogenspiegel die verbale Kompetenz. Mit solchen Diagnosen zieht sich Roth den Zorn jener zu, die geschlechtliche Leistungsunterschiede eher als Resultat gesellschaftlicher Realitäten sehen, denn als Ausdruck genetischer oder hormoneller Faktoren.

Geschlechterunterschied im Ländervergleich

Unterstützung erhalten sie dabei von einer Studie der Medizinerin Janet Mertz und des Mathematikers Jonathan Kane, die Anfang dieses Jahres in der Fachzeitschrift "Notices of the American Mathematical Society“ erschien. Grundgedanke der beiden: Wenn Geschlechterunterschiede biologische Ursachen haben, dann müssen diese Unterschiede unabhängig von Kultur und Staat universell messbar sein. Deshalb werteten sie die Daten der internationalen TIMSS-Untersuchungen von 2003 und 2007 aus.

TIMSS (Trends in Mathematics and Science Study) testet mathematische Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der vierten und achten Schulstufe aus 15.000 Schulen in 46 Ländern. Dabei zeigten sich länderspezifische Unterschiede von Mädchen und Buben, die mit der These des angeborenen Talents nicht vereinbar sind. Während etwa in den USA oder Australien Buben bessere Mathematiker sind, ist das Verhältnis in Marokko ausgeglichen. In Tunesien und Bahrain schneiden Mädchen sogar besser ab als gleichaltrige Buben.

Erhärten konnten Mertz und Kane dagegen die These der sozialen Ursachen geschlechtsspezifischer Unterschiede. Sie entdeckten einen Zusammenhang zwischen dem TIMSS-Test und dem Gender-Gap-Index. Diese vom World Economic Forum veröffentlichte Maßzahl zeigt den Grad an Gleichberechtigung in einem Land an, indem sie die wirtschaftliche Gleichstellung, politischen Einfluss, Bildung und Gesundheit berücksichtigt. Mädchen sind umso besser in Mathematik, je stärker die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in einem Land ausgeprägt ist.

Geschlechterproblematik fehlt in der Ausbildung

"Die Diskussion darüber, ob Eigenschaften angeboren oder erlernt sind, verstellt den Blick auf die Ursachen von Unterschieden“, meint Renate Tanzberger vom Verein zur Erarbeitung feministischer Erziehungs- und Unterrichtsmodelle (EfEU). "Viel interessanter ist es, sich die historischen Veränderungen anzusehen.“ Hier zeigt sich, dass Mädchen in den vergangenen 30 Jahren gegenüber Buben sukzessive an Bildung aufgeholt haben.

Mehr Mädchen als Buben besuchen maturaführende Schulen. Mehr junge Frauen als Männer beginnen ein Universitätsstudium. Alte Muster beginnen aufzubrechen. Nach wie vor mangele es aber etwa an der Selbsteinschätzung: "Wenn Mädchen in der Schule erfolgreich sind, schreiben sie das eher Glück oder Zufall zu“, sagt Tanzberger.

Eine Schlüsselrolle spielen Lehrpersonen. Diese sollten vorurteilsfrei auf die jeweiligen Bedürfnisse von Mädchen und Buben eingehen und eine natürliche Entfaltung von Geschlechterrollen zulassen. So zeigte 2010 eine Studie amerikanischer Psychologen, dass die Mathematikleistungen von Mädchen abnehmen, wenn sie von einer Lehrerin unterrichtet werden, die selbst eine Abneigung gegen das Fach hat. Bei Buben konnte dieser Effekt nicht nachgewiesen werden. "Es ist ein Problem, dass die Geschlechterproblematik in der pädagogischen Ausbildung noch immer nicht verpflichtend ist“, bedauert Tanzberger.

Was macht Buben zu Bildungsverlierern?

Ein den Mathematikleistungen diametral entgegengesetztes Bild bietet sich, wenn man die Lesekompetenz von Mädchen und Buben betrachtet. Wie die PISA-Studie zeigt, sind Mädchen den Buben überlegen, und zwar in allen OECD-Ländern.

"Man hat außerdem festgestellt, dass der Schulverlauf stärker von den Lesefähigkeiten abhängt, als von mathematischen oder naturwissenschaftlichen“, sagt Johann Bacher vom Institut für Soziologie der Johannes Kepler Universität in Linz. Kinder mit Leseschwächen haben eine geringere Wahrscheinlichkeit auf einen höheren Bildungsabschluss. Dies begründet das Schlagwort von den Buben als Bildungsverlierern, das in dieser Schärfe jedoch nicht zutreffend ist. "Bis zum Ende der Volksschule gibt es nur geringe Unterschiede zwischen Mädchen und Buben“, sagt Bacher. "Im Alter von elf bis zwölf Jahren findet dann bei beiden Geschlechtern ein Leistungseinbruch statt, der bei Buben aber stärker ausgeprägt ist.“

Dafür wird häufig der Umstand verantwortlich gemacht, dass das Lehrpersonal in der Volksschule vorwiegend weiblich ist. Wegen versteckter "Verweiblichung“ des Unterrichts blieben die Buben auf der Strecke. "Diese These der Femininisierung ist empirisch nicht haltbar“, stellt Bacher klar. "Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht des Lehrpersonals und dem Anteil männlicher Schüler, die später die Matura machen.“ Auch der Einsatz von "bubengerechter“ Sachliteratur kann auf Grundlage der Erkenntnisse nicht empfohlen werden. Im Gegenteil: Es gibt das Paradox, dass Buben sogar schlechter im Lesen sind, wenn sie mit Sachliteratur arbeiten. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Sachliteratur keine ausreichende Identifikation mit dem Lesestoff ermögliche. "Vielleicht muss man aber auch nur die begleitende Didaktik verbessern“, meint Bacher.

Zur PISA-Studie von 2009 befragte er in einer nationale Zusatzerhebung 1600 Schüler aus 250 Schulen. "Dabei haben wir die unterschiedliche Freizeitgestaltung als den Faktor mit dem stärksten Erklärungswert gefunden.“

Kommunikation macht den Unterschied

So lesen Mädchen in ihrer Freizeit doppelt so viel wie Buben. Kaum Unterschiede gibt es bei der Zeit, die am Computer verbracht wird. Wohl aber bei der Art der Computernutzung. Buben nutzen den Rechner häufiger zum Spielen, Mädchen eher zur Kommunikation. Männliche Pubertierende neigen zu hedonistischen Aktivitäten wie Alkoholgenuss oder dem viel geziehenen "Herumhängen“ mit Freunden. "Insgesamt nutzen Mädchen ihre Freizeit sinnvoller“, fasst Bacher zusammen.

Daraus lässt sich die Empfehlung ableiten, Jugendlichen bessere Angebote zur strukturierten Freizeitgestaltung zu machen. Alternativ hält Bacher eine verschränkte Ganztagsschule für sinnvoll, in der Unterricht und Freizeit sich über den Tag hinweg abwechseln. Grundsätzlich sei das Geschlecht aber nicht der wichtigste Faktor für unterschiedliche schulische Leistungen, meint Bacher: "Das soziale Milieu oder Migrationshintergrund wirken viel stärker auf den Bildungserfolg.“

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