Wem das Herzstück schlägt

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Vier kritische Befunde zur Bildungsreform. - Eine indirekte Replik auf den Beitrag "Reform als Selbstzweck" von Harald Miesbacher (Furche Nr. 8).

Seit Wochen ist eine neue österreichische Bundesregierung im Amt, mit gemächlichem Reformtempo. Das gilt auch für das apostrophierte Herzstück, die Bildungspolitik. Womit die Ungeduld steigt. So mancher will sich durch spektakuläre Absichten der Koalition über Miseren nicht weiter hinwegtrösten lassen, wie etwa Harald Miesbacher (s. Furche Nr. 8, S. 7). Sollen wir nun für die Zukunft eher eine "magische" Wissenspolitik erwarten oder uns doch auf spontane Ernüchterungen einstellen?

I. Baustelle PISA

Eine magische bildungspolitische Baustellenarbeit könnte schon am Fundament scheitern, denn ein Gesamtkunstwerk will das Kunstwerk Schule, so scheint es, nicht werden. Sinnlichkeit und ästhetische Rationalität gestattet man weithin gerade noch der alternativen Figur einer Reformpädagogik oder einigen angeblich exotischen Schulfächern. Ästhetische Überzeugungsarbeit wie jene der Kunst gilt als eher artfremd.

Die gesetzten Fundamente liegen anders, das ist wohl richtig. Man kann es gut an der Hochkonjunktur ablesen, die in der letzten Zeit im Blätterwald und auch sonst durch das Bekanntwerden der internationalen Schulleistungsmessungen nach dem Modell von PISA erreicht worden ist. Unter Nutzung einer von Meta-Eliten als Weltrezept erdachten didaktischen Struktur sollen damit in den Schulen rund um den Erdball die gleichen ökonomisch funktionalen Qualifikationen durchgesetzt werden. Was sie erzielen können, ist eine Prognose der individuellen Anpassungsfähigkeit auf internationalen Ausbildungsmärkten. Aber ihre extensive Durchsetzung könnte zu einem Verlustgeschäft ausarten, denn der Gestus eines didaktischen Weltmaßstabs muss zwangsläufig stark vereinfachen, von kulturellen und historischen Unterschieden abstrahieren und sich auf Formales zurückziehen.

Stiefkind Bildungsforschung

Ja, man darf und kann seine pädagogische Selbständigkeit nicht aufgeben. Deshalb folgt die eigentliche pädagogische Arbeit den globalen Systemchecks immer erst nach. Und sie besteht gewiss nicht darin, auf den nächsten Prüfungstermin vorzubereiten. Da hierzulande die Bildungsforschung ein relativ einflussloses Schattendasein führt, ist allerdings zu fragen, wo denn eine hilfreiche Vorarbeit und seriöse Suche nach fruchtbaren Benchmarks eigentlich erfolgen soll. Vom Problem einer sterilen öffentlichen Informationslage und der Unbestimmtheit weiterer Bildungsindikatoren für wichtige Schulfunktionen ganz abgesehen. Kein Wunder, dass viele Reformbegriffe nicht so ankommen, wie sie ankommen sollten.

II. Baustelle Lernkultur

Der Haupteindruck von Harald Miesbacher, dass hinter schulischer Effizienz menschliches Glück zu verschwinden droht, ist nachvollziehbar. Aber nicht aus falschem Ehrgeiz, wie ich meine, sondern weil der genuin "seelische" Charakter von Bildung unterschlagen wird. Die Alternative wäre ein Individualisierungsmodell, durch das die selbstreflexiven Fähigkeiten der Lernenden im Prozess ihrer persönlichen Entwicklung gestärkt werden. Bildung entsteht schließlich nur durch einsichtsvolles Lernen, das sich in der Selbstreflexion des Wissens bewähren muss. Wer das ernst nimmt, braucht sich auch nicht mehr vor "subproletarischen Milieus" (Miesbacher) zu fürchten. Vermutlich stellt die Kunstpädagogik einen Elchtest für eine solche verträgliche Verpersönlichung des Unterrichtsgeschehens dar.

III. Baustelle Schulverwaltung

Schulfunktionären, gleich welcher Coleur, und solchen, die es noch werden wollen, muss man ins Stammbuch schreiben, dass sie auf der Verwaltungsseite von Schule die österreichische Spezialität des Schulproporzes vollziehen. Die politischen Zentralisten sitzen sozusagen überall herum, selbst noch in der wissenschaftsnahen Lehrerbildung. Das entstehende Problem ist dem erwähnten Lernproblem ziemlich ähnlich. Der Versuch, Entscheidungen von der Spitze her zu vereinfachen und unten zu kontrollieren, führt zur Unterdrückung differenzierter pädagogischer Wahrnehmung und Reflexion an der Basis.

Die Ironie ist nun, dass pädagogische Tugendwächterei die Unversehrtheit der schulischen Kerntätigkeit nicht schützt. Erstens sind Tugendwächter keine Übermenschen, und zweitens lösen unsachliche Einmischungen schlicht Verstörungen aus. Wie Oppositionelle deuten Lehrer und Eltern parteipolitisches Agieren, dem sie nicht entgehen können, auf ihre Weise und reagieren darauf je nach persönlicher Verarbeitungsstrategie durch Wohlverhalten, Ausweichmanöver, revolutionäre Angriffigkeit, innere Emigration, politische Interventionitis oder andere pädagogische Leblosigkeiten. Und zu Recht fühlen sich Lehrer, Eltern und Schüler missverstanden, wenn ihre tiefere Problemsicht nur mit vorgefertigten, zeitlich verschobenen Allerweltslösungen beantwortet wird. Über solche Vorgänge sollte man sich schleunigst erheben.

In der letzten Zeit bekommt man dazu häufig den Ohrwurm von der Segen bringenden Beseitigung verwaltungspolitischer Doppelgleisigkeiten serviert. Das alte Hausmittel kluger Verwalter und ihr Motto "Jeder gibt ein wenig nach" scheint sich verbraucht zu haben. Allerdings wird der gelernte Österreicher bei der Forderung nach Entflechtung der Kompetenzen den Verdacht auf einen architektonischen Baufehler nicht los. Was nämlich, wenn sie sich als bloße territoriale Machtaufteilung entpuppte, bei der künftig zwei Augen mehr sehen sollen als vier? Die neue Grundarchitektur müsste schon eine andere sein. Doch wie soll ein Paradigmenwechsel funktionieren angesichts eines so hohen Unmutes bei Betroffenen, die das Gefühl haben, Reformen immer nur ausbaden zu müssen?

Zweckdienlich könnte es sein, fürs erste überschaubare regionale Verwaltungseinheiten zu schaffen, die durch zusammenhängende schulische Problemlagen charakterisiert sind, und dort über die gemeinsam benötigten Ressourcen zu verfügen. Eine Preisgabe alter Schrebergärten. Noch einen Schritt weiter käme man, wenn die Überschaubarkeit von Bildungsregionen dazu benutzt würde, breite sachpartnerschaftliche Arbeitsnetzwerke einzurichten. Beteiligung hieße dann das Prinzip. Sie würde die Qualität und Repräsentativität der wechselseitigen Information wesentlich erhöhen.

IV. Baustelle Schulentwicklung

Naturgemäß brächte das alles schöpferische Unruhe mit sich, und diese ist nicht gerade ein Markenzeichen der österreichischen Schulpolitik. In Hinblick auf pädagogische Fortschrittlichkeit liebt es die Schulpolitik rechtlich verantwortungsfrei zu bleiben und sich Handlungsoptionen ohne Verpflichtung auf eine bestimmte Logik und eine parlamentarisch kontrollierbare Programmatik vorzubehalten. Dies stärkt jedenfalls nicht sachliche Evidenz und demokratisches Vertrauen.

Recht auf Experimente

Unter diesen Vorzeichen muss man wohl alle Versuche begrüßen, neue Areale der Konvergenz zu schaffen. Die Einrichtung von Bildungsregionen wäre dafür ein geeigneter Anlass. Die Politik sollte dieses Tauwetter konsequenterweise gleich zum Prinzip erheben, operative Freiräume generell erweitern und den Schulen ein ausdrückliches Recht auf innovative Experimente einräumen. Die monierte Gesamtschulfrage wäre damit grundsätzlich nicht vom Tisch.

Wer politische und sonstige Widersprüchlichkeiten als unproduktiv zurückweist, wird sich einigermaßen schwer tun diese Entwicklungsautonomie einzufordern. Vielleicht mag ihn beruhigen, dass ein Recht von Schulen auf Innovationen nie völlig auflagenfrei festgeschrieben werden könnte. Wie nämlich Innovationen letztlich nur den Sinn haben können, Beiträge zur Erhöhung der Gesamtqualität des Bildungswesens zu leisten, so kann das Recht auf schulische Experimente letztlich nur den Sinn haben, erprobte good practice später allen zu gestatten und Überholtes legistisch zu tilgen. Mit Wissenschaftlichkeit als Brücke, aufgrund einer durchgängigen Vernetzung mit einer breit angelegten Bildungsforschung. Statt funktionierender Strukturen würden dann durch die ungeliebten Reformer nur mehr nicht-funktionierende ruiniert.

Wäre das nicht eine akzeptable Einladung an alle Akteure, sich vor neuen Herausforderungen nicht weiter heftig zu fürchten?

Der Autor ist Erziehungswissenschafter, war Hauptschullehrer und lange Zeit in der Schulverwaltung tätig.

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