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Wenn das Leben unerträglich wird...

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Süchtig zu sein, ist heute kein „abweichendes Verhalten” mehr, sondern in unserer Gesellschaft schon fast die Norm. Anhand der Beispiele Alkohol, Medikamenten- und Eßsucht wird aufgezeigt, auf welche Weise „versteckte” Süchte den Menschen beeinträchtigen können.

Alkohol, die „legale Droge”

Drei von vier Erwachsenen konsumieren regelmäßig (mehr als einmal in der Woche) Alkohol. Das ist das Ergebnis einer Erhebung des Wiener Anton-Proksch-lnstitutes. Davon sind allerdings etwa 650.000 Menschen alkoholgefährdet. Sie zählen zu jener Gruppe, bei der die Grenze zwischen Konsum und Mißbrauch bereits überschritten ist. Diese Menschen trinken häufig und unter Umständen große Mengen. Sie setzen Alkohol ein, um Streßsituationen und Probleme besser zu bewältigen.

Alkohol ist die am stärksten mißbrauchte Droge, da „Trinken” gesellschaftlich „anerkannt” ist. Abhängige Menschen finden sich in sämtlichen Gesellschaftsschichten, bei Männern wie bei Frauen. Körperliche Schädigungen und Todesursachen durch Alkohol sind an der Tagesordnung: Schätzungen zufolge stehen 13 bis 30 Prozent aller Selbstmorde in engem Zusammenhang mit Alkoholkonsum oder -mißbrauch. Es wird vermutet, daß 30 Prozent aller Arbeitsunfälle auf diese „legale Droge” zurückzuführen sind. 40 bis 50 Prozent aller Verkehrsunfälle und 40 bis 80 Prozent der Skiunfälle werden mit Alkoholkonsum in Zusammenhang gebracht.

Auch soziale Probleme gehen oft auf das Konto Alkohol: Bei 25 bis 35 Prozent der Ehescheidungen und bei der Hälfte der kriminellen Delikte spielt Alkohol eine Rolle.

Ein Problembewußtsein für Alkoholmißbrauch gibt es so gut wie nicht. Auf die Frage nach der Zufriedenheit hinsichtlich des Alkoholkonsumes, geben 95 Prozent der Befragten an, sie seien zufrieden Bei Bauchern sind es nur 40 Prozent. Der Best der Befragten würde gerne die Rauchgewohnheiten ändern.

Bei Analysen zeigt sich, daß bereits Schulkinder in engen Kontakt mit Alkohol kommen können. So erfahren sie schon sehr früh, daß jedes Familienfest mit Alkohol gefeiert wird. Im Laufe einer solchen Feier werden Kinder sehr oft dazu angehalten, am Alkohol zu „nippen” oder zu kosten. Sie sind dann auch stolz, sich wie Erwachsene verhalten zu dürfen. Was Erwachsene aber als „Spaß” betrachten, erlebt das Kind dahingehend, daß dem Alkoholkonsum eine gesellschaftliche Bedeutung zukommt.

Während der Pubertät wird der Genuß von Alkohol im Kreis Gleichaltriger oft als Mutprobe betrachtet.

Ein „Pulverl” für jedes „Wehwehchen”

Medikamente werden vielfach als die einzige Hilfe für problematische Lebenslagen angepriesen. Mit ihrer Hilfe gelingen Hausaufgaben und der Berufsstreß wird erträglich. Jede Krankheit gehört so rasch wie möglich wieder ausgemerzt, denn sie ist ein Hindernis beim beruflichen Aufstieg. Verborgene Konflikte und langfristig gesundheitliche Risiken werden mittels Tabletten einfach „hinuntergeschluckt”, damit „sich der Schmerz in nichts auflöst” (Pharma-Slogan). Gesünder ist es aber immer, die Krankheit als Signal zu verstehen, um bestimmte Lebensweisen zu korrigieren.

Es darf für Medikamente - ähnlich wie für Tabak und Alkohol - wegen der Gefahr von Sucht, Gewöhnung und des Mißbrauchs - nur sehr eingeschränkt geworben werden. Das Marketing-Etat der Pharma-Indu-strie ist aber trotz dieser Einschränkungen recht beachtlich.

Medikamentenabhängige Menschen haben sich vielleicht noch nie die Frage gestellt, ob sie nicht auch Opfer manch irreführender Werbung geworden sind, denn die Werbung für Medika- • mente weckt oft falsche oder übertriebene Bedürfnisse.

Frauen und Kinder sind die beliebteste Zielgruppe. Frauen nehmen Medikamente, um Doppel- und Dreifachbelastungen auszuhalten, Kinder werden wegen Schulstreß mit Medikamenten vollgestopft. So lernen sie schon in jungen Jahren gewisse Situationen nur mit Hilfe von Medikamenten zu bewältigen.

Eß- und Freßsucht

Eines vorweg: „Gestörtes Eßverhal-ten” haben nicht nur übergewichtige Menschen. Bei ihnen wird nur sicht-Was ist Sucht?

Stephan Rudas Leiter des Kuratoriums für psychosoziale

Dienste: „Sucht ist ein untauglicher W7iedergut-machungs-versuch des Unterbewußtseins für Dinge, die in früher Kindheit schiefgelaufen sind. Durch Sucht werden ganz frühe Enttäuschungen kompensiert. Natürlich hängt diese Neigung, sich immer wieder etwas geben zu wollen, auch mit einem zu schwach ausgeprägten Selbstwertgefühl zusammen.

Krankhafte Sucht liegt dann vor, wenn ein bestimmtes zwanghaftes Verhalten in den Mittelpunkt des Lebensintcresses gerückt ist.

Sucht passiert immer dann, wenn eine eigene, bewußte Entscheidung ausfällt. Sucht ist immer gleichbedeutend mit der Flucht aus der Realität.” bar, daß sie viel mehr essen als der Körper braucht. Dabei schmeckt es den Betroffenen oft gar nicht so gut. Mit Essen werden andere Bedürfnisse als der Hunger befriedigt, beispielsweise das Bedürfnis nach Ruhe, nach Zärtlichkeit oder nach Geborgenheit, um nur einige zu nennen.

Ks gibt aber auch Betroffene, bei denen die „Freßsucht” optisch nichtsichtbar ist. Zuihnen zählen Bulimiker(innen). Sie stopfen in kurzer Zeit eine Menge hochkalorischer Nahrung in sich hinein (bis zu 10.000 Kalorien innerhalb von 15 bis 30 Minuten), um danach alles wieder zu erbrechen. So wie bei Bulimiker(inne)n und stark Übergewichtigen kreist auch bei den sogenannten Anorektiker(inne)n (= Magersüchtige) ein großer Teil des Denkens ums Essen, obwohl - oder gerade weil - sie kaum Nahrung zu sich nehmen.

Gestörtes Eßverhalten hat aber -neben der psychischen Belastung -auch negative Auswirkungen auf die Gesundheit.

■ Übergewichtige leiden neben der üblichen Diskriminierung im öffentlichen und privaten Bereich auch an Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes mellitus, Herz- und Kreislaufbeschwerden, Fettstoffwechselstörungen, Gicht et cetera. ■Erste Fälle von Bulimie sind seit den vierziger Jahren bekannt. Bulimie tritt häufig während der Pubertät auf. Manche Frauen werden erst später Bulimikerinnen, teilweise auch im Anschluß an eine Magersucht.

Bulimiker(innen) sind meist normal- bis leicht untergewichtig. Sie wirken selbstbewußt und sind häufig erfolgreich im , Beruf und/oder während ihres Studiums. Für ihre Umwelt ist es meist schwer durchschaubar, wie es der Betroffenen wirklich geht. Unter ihren Heißhungerattacken mit anschließendem Erbrechen, was beides meist im geheimen geschieht, leiden sie sehr. Sie reagieren auf dieses Verhalten mit Scham- und Schuldgefühlen. Das „Freß- und Kotzverhalten” erscheint anfänglich ideal zur Problemlösung: Ich kann essen, was das Zeug hält, weil ich anschließend alles wieder hergebe und daher nicht dick werde.

Neben der psychischen Belastung des Geheimhaltens und der finanziellen Belastung (es kann bis zu mehreren Heißhungerattacken täglich kommen) wird die Gesundheit stark beeinträchtigt:

Der Elektrolythaushalt kann aus den Fugen geraten, es können auch Herzmuskelstörungen, Nierenschäden, Zahnverfall, Magen- und Darmerkrankungen, Verstopfung, Schlafstörung, Übelkeit und allgemeine Schwäche auftreten.

Für die magersüchtige Frau ist hingegen die Askese das Ideal. \ Es gilt, keine persönliche Schwäche zuzulassen. Ihren Freundesund Familienkreis versorgen Anorektikerin-nen aber gerne mit Essen. Der Prozentsatz an magersüchtigen Männern ist sehr gering. Wenn es sie gibt, dann in der Gruppe derer, bei denen Körpermaße und Gewicht große Bedeutung haben (zum Beispiel Tänzer).

Falsches Eßverhalten wird durch die in unserer Gesellschaft bestehenden Normen ausgelöst und gefördert. So haben viele Suchtkranke die Fähigkeit verlernt, über ihren Körper und dessen Bedürfnisse zu bestimmen.

Nächste Woche lesen Sie über „Spielsucht und A rbeitssucht” auf dieser Seite.

SUCHT HAT ETWAS MIT SEHNSUCHT ZU TUN

Günter Pernhaupt, Wiener Facharzt für Neurologie und Psychiatrie („Drogenpapst”) über die Ursachen des Suchtverhaltens. dieFurche: Hat Sucht auch etwas mit Sehnsucht zu tun? GÜNTER PERNHAt;pt: Ja, die Wortwurzel steckt da sicher drin. Süchtige sind jedenfalls Menschen, die etwas suchen. Vor allem im spirituellen Bereich. Die religiösen Systeme greifen in Europa allerdings nicht mehr gut. dieFlrche: Ist Sucht ein erlerntes Verhalten? Kann man sie demnach auch wieder verlernen? Pernhalft: Nein, dieser Ansicht bin ich nicht. Süchtige müssen soweit kommen, daß sie sich von ihrer Sucht gänzlich fernhalten. Keinen Tropfen Alkohol für Alkoholiker, ein Küchenverbot für Eßsüchtige. Süchtige haben die Grenze des Mißbrauchs aus den Augen verloren, der unsichtbare „Rubikon” wurde überschritten. dieflrche: Ist die Zahl der Süchtigen in Osterreich steigend? Pernhalft: Beim Drogenmißbrauch gibt es keine steigende Tendenz, sehr wohl aber beim Alkoholmißbrauch.

DiEFi rchk; Welche Sucht ist am schwersten zu behandeln? Pernhalft: Die Spielsucht. Hier kämpfen Arzte und Therapeuten auf verlorenem Posten. dieFlrche: Wo liegen die Ursachen für ein Suchtverhalten? Pernhalft: Zweifellos in der Kindheit. Eine schöne Kindheit ist der beste Garant gegen Sucht. Wo Bedürfnisse befriedigt wurden, wo es beispielsweise mehr als ein Kind in der Familie gegeben hat, wo auch Grenzen gesetzt wurden, da ist eine Basis für Suchtresistenz gegeben. dieFlrche: Milchen Anteil trägt unser Wohlstandsdenken am Suchtverhalten?

Pernhalft: Einen sehr bedeutenden. Falsche Vorbilder durch Werbung sowie die Tatsache, daß sämtliche Primärbedürfnisse gedeckt sind, lassen Süchte zu. Aber zurück zum Alkohol, mit dessen Mißbrauch ich beruflich am meisten konfrontiert bin: Es ist in Osterreich leider nach wie vor nicht verpönt, wenn Männer zu viel trinken.

Frauen, die Alkoholmißbrauch betreiben, sind hingegen gesellschaftlich sehr rasch geächtet. Was die Eßstörungen bei Mädchen betrifft, so hat es in diesen Fällen meist eine Störung im Ernährungsverhalten der Mutter gegeben. Das Kind wurde nicht ideal ernährt und reagiert in späterer Folge mit massiven Störungen in bezug auf die Nahrungsaufnahme.

Sehr allgemein gesprochen kann man sagen, daß auch die Tendenz unserer Zeit, immer mehr aufnehmen und empfangen zu wollen, als man selbst bereit ist zu geben, die Suchtentwicklung sehr entscheidend beeinflußt.

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