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Wer braucht heute Schutz?

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Wir brauchen einen Minimalkonsens darüber, was in einer freien Gesellschaft nicht unter die Räder kommen darf.

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Wir brauchen einen Minimalkonsens darüber, was in einer freien Gesellschaft nicht unter die Räder kommen darf.

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Die Diskussion um das „Schutzalter”, konkret um die Frage, ob homosexuelle Beziehungen zu männlichen Jugendlichen ab 14 oder 16 Jahren (statt bisher 18 Jahren) in Zukunft straffrei bleiben sollen, dürfte mit der kürzlich erfolgten parlamentarischen Abstimmung, die in diesem Punkt keine Änderung der bisherigen Gesetzgebung ergab, nicht ausgestanden sein. Und dahinter steht die Grundsatzfrage: Was soll der Staat alles schützen? Wo muß er die persönliche Freiheit des einen einschränken (des rasenden Autofahrers zum Beispiel), um die Sicherheit des anderen (des gehenden Kindes zum Beispiel) zu gewährleisten?

Es sind auch schon Leute auf Zebrastreifen überfahren worden. Aber im Prinzip sollte man sich als Fußgänger auf einem Schutzweg sicher fühlen können. Daß Verkehrsregeln bestehen und daß sie eingehalten werden, liegt im öffentlichen Interesse. Es ist offenkundig, daß der Schutz der Bürger dem Gesetzgeber hier ein Anliegen ist. Und jeder spürt ein gewisses Schutzbedürfnis, eine „Sehnsucht nach Sicherheit” (furche-Dossier, 50/95) , in unserer Gesellschaft.

Die Antwort auf die Frage, was heute schützenswert ist oder sein sollte, hängt natürlich, wie schon der Begriff sagt, sehr eng mit Wertvorstellungen und Weltanschauung zusammen. An mit dem Wort Schutz verbundenen Begriffen mangelt es uns nicht. Denken wir nur an den Autofahrern empfohlenen Schutzbrief, an die abgelaufene Schutzfrist, an das von mafiosen Typen erpreßte Schutzgeld, an den in Ozonloch-Zeiten besonders wichtigen Sonnenschutz oder an den auf Wanderungen ratsamen Begenschutz. Und erinnern wir uns mit Schaudern, wie die in Bosnien von der UNO eingerichteten „Schutzzonen” zur Falle für ihre Bewohner wurden.

Übrigens: Haben Sie sich allen wichtigen Schutzimpfungen unterzogen? Genießen Sie genug Versicherungsschutz, um gegen alle Fährnisse des Lebens und deren Folgen gewappnet zu sein? Wissen Sie, falls Sie Träger höherer weltlicher oder geistlicher Würden sind, für welche Veranstaltungen Sie im Zeitalter der „poli-tical correctness” den Ehrenschutz zu übernehmen haben und für welche nicht?

Von den vielen Schutzformen, die Politiker und Staat gerne propagieren, seien nur einige Beispiele hier genannt: Schutz des Lebens, Schutz der Menschen- und Bürgerrechte, Umweltschutz, Datenschutz, Denkmalschutz, Konsumentenschutz, Kreditschutz, Kündigungsschutz, Mieterschutz, Mutterschutz, Grenzschutz, Jugehdschutz, Zivilschutz. Nur - sind wir uns noch weitgehend einig darüber, was besonders zu schützen ist oder wie eine Hierarchie des Schützenswerten aussehen sollte? Oder herrscht diesbezüglich nicht schon längst eine Vielfalt an Meinungen, die nicht einmal einigermaßen stabil ist, sondern sich auch wieder ändern kann (wie die Einstellung zur Todesstrafe nach einem besonders abscheulichen Kapitalverbrechen)?

Man gebe sich kei nen Illusionen hin. In Öster reich kann bezüglich einer Beihe mit dem Begriff Schutz verbundener Fragen von gesellschaftlichem Konsens keine Bede sein. Da gibt es nicht nur die aktuelle Schutzalter-Diskussion, sondern noch viele andere Beispiele: Mit welchem Aufwand an Mitteln soll ein Staat seine Grenzen schützen? Bis zu welchem Grad muß ein Staat bereit sein, ausländisehen Flüchtlingen Schutz (Asyl) zu gewähren? Wo gehört die Umwelt, wo gehören die Interessen der Wirtschaft und damit Arbeitsplätze geschützt? Ist Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod zu schützen? Kann der eventuell wirksamere Schutz vor Kriminalität ein Unterlaufen des Schutzes der Intimsphäre von Bürgern (Basterfahndung, Lauschangriff) rechtfertigen? Gilt es, an den Band ge-. drängte Perdurch Klubzwang und Gruppendruck in den einzelnen Fraktionen - meist weitgehend einheitliches Denken in den Parteien vortäuscht.

Natürlich gehört zum Beispiel die Grenze eines Staates, der sich ernst nimmt, geschützt. Aber Asyl für jene, die über diese Grenze wie unter ein schützendes Dach geflüchtet sind, weil sie jenseits davon mit Verfolgung, Leid oder gar Tod rechnen müssen, war schon in vorchristlichen Kulturen (man lese nur „Die Schutzflehenden” des Aischylos) eine heilige Verpflichtung. Wie weit diese Bedrohung auf derzeit in Österreich befindliche Ausländer zutrifft, ist sicher im Einzelfall zu prüfen, sollte aber im Zweifel zugunsten des Asylanten entschieden werden.

Schutzbestimmungen sollten im Zweifel immer dem Schwächeren, der sich nicht wehren kann, dienen. Aber tun sie das noch in einer Gesellschaft, in der mit Schlagworten wie „Freiheit” und „gegen Diskriminierung” fast alles in Frage gestellt werden kann? Wird angesichts des verlorenen Konsenses in bestimmten Fragen - insbesondere Ehe, Familie, Moral - der Schutz mancher Werte zur reinen Privatsache? Glaubt eine Gesellschaft, Weihnachten feiern zu können, ohne auf die Botschaft dieses Festes hören zu müssen?

Konflikte, welchem Wert in welcher Situation mehr Bedeutung zukommt, kann und wird es immer geben, von der Politik ist zu verlangen, daß sie um Kompromisse zwischen lesonen oder eher (siehe Bettlerverordnung) die Bürger vor den zudringlichen Armen zu schützen? Soll die freie Marktwirtschaft mit ihren „Elefantenhochzeiten” dazu führen, daß nur mehr zwei, drei oder gar nur einer in einer Branche dominieren oder wäre nicht für kleinere oder mittlere Unternehmen ein „Artenschutz” angebracht?

Auf all diese Fragen wird man sehr unterschiedliche Antworten hören, zum Teil quer durch die politischen Lager, obwohl das Abstimmungsverhalten im Nationalrat gitimen Werthaltungen ringt und niemandem unnötig erschwert, seine Werte zu leben. Nicht ein Klima des Niedermachens, sondern des redlichen Uberzeugen-Wollens anderer verdient Bespekt - und Schutz.

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