"Wer hat, dem wird gegeben"

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Aljoscha Neubauer, Professor für Differentielle Psychologie an der Universität Graz, über die "Diagnose" Hochbegabung, die Ursachen beschleunigten Denkens und die negativen Folgen andauernder Unterforderung.

Die Furche: Herr Professor Neubauer: Ist Hochbegabung messbar?

Aljoscha Neubauer: Per se nicht, weil mehrere Aspekte hineinspielen. Was man aber messen kann, ist die kognitive Intelligenz, die sich in verbal-sprachlichen und in numerisch-mathematischen Fähigkeiten sowie figural-räumlicher Vorstellungsfähigkeit zeigen kann. Daneben gibt es aber natürlich auch außergewöhnliche Begabungen im Bereich des Sports oder des Künstlerisch-Kreativen.

Die Furche: Um bei der kognitiven Intelligenz zu bleiben: Ab welchem Intelligenzquotienten gelten Kinder oder Jugendliche als hochbegabt?

Neubauer: Bei einem iq von über 130. Das entspricht den obersten zwei Prozent in der Normalverteilung der Intelligenz, wobei es bei iq-Messungen auch Unschärfen gibt. Man sollte also keinesfalls auf Grund einer einzelnen Messung, die in einem Streuungsbereich um 130 liegt, jemanden endgültig als hochbegabt oder nicht hochbegabt qualifizieren, sondern ein zweites oder drittes Testverfahren anhängen und zusätzlich Lehrerbeobachtungen und Elternbefragungen einholen.

Die Furche: Denken Hochbegabte anders oder schneller?

Neubauer: Es gibt deutliche Hinweise, dass Hochbegabte oder generell intelligentere Menschen sich in der Arbeitsweise ihres Gehirns unterscheiden. Zum einen ist bei ihnen die Verarbeitungsgeschwindigkeit größer. Und zweitens ist ihr Arbeitsgedächtnis besser ausgeprägt: Sie können also in höherem Grad verschiedenste Informationen im Arbeitsspeicher präsent halten und mit diesen Inhalten Operationen durchführen.

Die Furche: Was führt zu einem solchen beschleunigten Denken?

Neubauer: Man vermutet, dass eine wesentliche Ursache im Grad der Myelenisierung der Nervenbahnen liegt. Myelin ist eine aus Fetten und Eiweißen bestehende Schicht, welche die Nervenkabel gewissermaßen ummantelt. Je besser diese Ummantelung ist, desto schneller werden Informationen im Gehirn weitergeleitet und desto geringer ist die Gefahr von "Kurzschlüssen". Man vermutet außerdem, dass es eine gewisse genetische Determiniertheit für den Grad der Myelenisierung gibt. Es gibt aber auch Studien, die zeigen, dass die Myelenisierung möglicherweise auch davon abhängt, wie man in den ersten Lebensmonaten ernährt wird: Säuglinge, die Muttermilch bekommen haben, weisen einige Jahre später einen um fünf bis sieben Punkte höheren Intelligenzquotienten auf, was mit dem höheren Fettanteil in der Muttermilch erklärt wird.

Die Furche: Wie hoch ist insgesamt der genetische und der Umwelt-Einfluss auf die Intelligenz eines Kindes?

Neubauer: Wenn man Adoptions-und Zwillingsstudien betrachtet, lässt sich ein genetischer Einfluss von etwa 50 Prozent auf die allgemeine Intelligenz nachweisen. Dieser genetische Effekt wird im Laufe des Lebens immer stärker - die Gene setzen sich also immer stärker durch. Das ist mit der so genannten aktiven Anlage-Umwelt-Korrelation zu erklären: Genetisch intelligentere Personen suchen sich auch Intelligenz förderndere Berufe und intelligentere Partner und Freunde aus, was wiederum rückwirkt und die Intelligenz steigert - ganz nach dem biblischen Zitat: Wer hat, dem wird gegeben. Dazu kommt aber noch, dass Kinder mit einer höheren angeborenen Intelligenz in ihrer Familie oft mehr Bildungsanreize vorfinden - mehr Bücher, mehr Musikinstrumente, der Fernseher läuft nicht den ganzen Tag. Man spricht hier von passiver Anlage-Umwelt-Korrelation. Und drittens gibt es noch den reaktiven Effekt, dass ein intelligenteres Kind bei den Eltern, Lehrern oder Mitschülern Reaktionen hervorruft, die wiederum seine Intelligenz weiter fördern. Und wenn all das zusammenwirkt und auch noch zu Erfolgen führt, entsteht Motivation.

Die Furche: Wie wichtig ist diese Motivation bei der Ausbildung schulischer oder beruflicher Höchstleistungen?

Neubauer: Sehr wichtig. Jemand mit einem hohen Potenzial, aber einer sehr geringen Motivation, dieses intellektuelle Potenzial auch umzusetzen, wird genauso wenig Höchstleistungen vollbringen wie eine Person, die höchst motiviert ist, aber das intellektuelle Potenzial nicht hat. Um Außergewöhnliches leisten zu können, ist ja neben Intelligenz oft auch jahrelanges Lernen notwendig. Es ist ja für viele Fächer nachgewiesen, dass man sich zehn Jahre oder 10.000 Stunden mit einer Domäne beschäftigen muss, um Meisterschaft zu erreichen.

Die Furche: Ab welchem Alter kann Hochbegabung "diagnostiziert" werden?

Neubauer: Möglicherweise schon im Säuglingsalter: Es gibt Versuche, wo man die Blickbewegungen von Säuglingen beobachtet und schon gewisse Zusammenhänge mit der späteren erwachsenen Intelligenz festgestellt hat. Aber es ist natürlich noch keine so gute Vorhersage möglich wie später im Volksschulalter. Im Regelfall wird die Überlegung ja allenfalls darin liegen, die Kinder ein Jahr früher einzuschulen - wozu es ja jetzt die Möglichkeit gibt (siehe Kasten rechts). Man sollte jedenfalls vorher eine entsprechende Diagnose eines Schulpsychologen einholen, wenn man den Eindruck hat, dass das eigene Kind bei einem weiteren Kindergartenjahr massiv unterfordert ist. Indikatoren, die auf Hochbegabung schließen lassen, gibt es jedenfalls auf allen Altersstufen: darunter großer Wissensdurst, besonders frühes Interesse an Buchstaben und Zahlen oder auch geringeres Schlafbedürfnis.

Die Furche: Unterscheiden sich Hochbegabte in emotionaler oder sozialer Hinsicht von normal Begabten?

Neubauer: Das ist ein Vorurteil. Zwar gibt es die Vermutung, dass Höchstbegabte mit iqs von mehr als 170 soziale Auffälligkeiten aufweisen würden. Aber im Bereich der "normalen" Hochbegabung ist eher das Gegenteil der Fall. Manche dieser Kinder machen sich etwa dadurch beliebt, dass sie für andere die Hausaufgaben machen. Auch in der berühmten Langzeitstudie von Louis Terman aus dem Jahr 1921 haben sich die hochbegabten Kinder in sozialer Hinsicht nicht von durchschnittlich Begabten unterschieden.

Die Furche: Soll man einem Kind die Diagnose Hochbegabung mitteilen?

Neubauer: Nein. Wenn ein solches Kind in besonderen Schulungsmaßnahmen geführt wird, merkt es ohnedies, dass hier etwas anders ist. Aber man sollte es jedenfalls tunlichst vermeiden, ihm das Label "hochbegabt" umzuhängen. Umgekehrt soll man ein begabtes Kind natürlich bestmöglich fördern. Denn Unterforderung ist das Schlimmste, was man ihm antun kann.

Die Furche: Was wären die Folgen?

Neubauer: Solche Kinder könnten "Underachiever" werden, also "Minderleister". Schätzungen gehen davon aus, dass zehn bis zwanzig Prozent der Hoch-und Höchstbegabten nicht die nötige Förderung bekommen und dann sowohl in ihrem schulischen Leistungsverhalten wie in ihrem Sozialverhalten in das Gegenteil umschlagen. Es geht also darum, die Eltern hochbegabter Kinder dazu zu bringen, dieses Geschenk - das es ja ist - auch wirklich anzunehmen.

Das Gespräch führte

Doris Helmberger.

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