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Wie man sich heute zusammenrauft

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Bei Konflikten in der Familie ist es am wichtigsten, auch die Position des anderen anzuerkennen, ohne die eigene gleich aufzugeben.

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Bei Konflikten in der Familie ist es am wichtigsten, auch die Position des anderen anzuerkennen, ohne die eigene gleich aufzugeben.

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DIEFURCHE: Herr Professor Stierlin, Sie sind ein international bekannter Familientherapeut Wo liegt der Sprengstoff für das Scheitern so vieler Eheri>

Helm Stierlin: Es ist zunächst einmal interessant, daß heute etwa 70 Prozent der Trennungswünsche von Frauen ausgehen. Das hat damit zu tun, daß immer mehr Frauen die Möglichkeit haben, sich finanziell selbständig zu machen und ein eigenes Leben zu führen. Es bsteht nicht mehr die Abhängigkeit wie früher, das Selbstbewußtsein der Frauen ist gewachsen, sie erheben Anspruch auf Selbstverwirklichung.

Weiters haben die Scheidungen natürlich auch damit zu tun, daß Menschen viel länger leben. Das Durchschnittsalter liegt heute zwischen 70 und 80 Jahren. Deswegen kommt es auch immer mehr zu einer neuen Eheschließung.

Dann spielt sicher eine Rolle, daß es eben schwieriger wird, neue Formen des Zusammenlebens zu entwickeln, sich zusammenzuraufen, weil die Modelle dafür fehlen. Eine faire Rollenverteilung zum Beispiel kennen die meisten von ihren eigenen Eltern nicht. Das ist eine ungeheuer energie- und kraftverzehrende Arbeit für viele Paare, an der sie dann schließlich scheitern. Es gibt eine Menge Studien, die zeigen, daß diejenigen Paare am glücklichsten sind, die zu einer befriedigenden Rollenverteilung gekommen sind. Nur gibt es solche Paare noch sehr selten.

DIEFURCHE: Wie geht das? Stierlin : Ich halte Konfliktmanage-ment für etwas ganz Zentrales. Es geht bei einer toleranten Haltung ja nicht darum, daß man alles akzeptiert. Wichtig ist, daß man sich bei Auseinandersetzungen zwar seine Position wahrt, aber trotzdem versucht, die Position des anderen anzuerkennen.

DIEFURCHE: Ist die Familie das beste

Laboratorium, um das zu lernen' stierlin: Ja, weil in keiner Institution können Menschen einander so intensiv kennenlernen. Ich spreche in meinen Schriften von einer „liebenden Streitkultur”.

DIEFURCHE: Wie bringt man die seinen Kindern bei?

Stierlin: Es gibt eine Grundregel: es ist viel wichtiger, was die Eltern in ihrem Verhalten zeigen, als das, was sie sagen. Kinder achten darauf, wie tolerant die Eltern miteinander umgehen und wie die Erwachsenen selbst Konflikte lösen. Sie achten viel weniger darauf, was diese sagen.

Außerdem - all diese Begriffe wie „Kinder erziehen” sind fragwürdig. Man kann Kinder nicht „ziehen” wie eine Pflanze. Das geht nicht. Das sind selbständige Wesen. Jedes Kind ist anders. Auch die Einflußmöglichkeiten der besten Eltern sind gering. Aber wenn sie in ihrem Verhalten Wertschätzung, Respekt vor dem anderen zeigen, dann kommt das bei einem Kind gut an. Kinder, die sich gut entwickeln, kommen in der Regel aus solchen Familien.

DIEFURCHE: Es ist oft von der Krise der Familie die Rede. Hat sie Zukunft? stierlin: Wir müssen uns daran erinnern, daß das Patriarchat tief drin sitzt in unseren Familienstrukturen. Aber ich glaube, diese Zeiten sind vorbei. Auch in den Familien ist ein demokratisches, partnerschaftliches Kooperieren angesagt. Natürlich wirken dabei auch wiederum viele Faktoren ein, die diese neuen Familienstrukturen ebenfalls gefährden. Deswegen stellen Soziologen auch sehr düstere Prognosen über die Zukunft der Familie an. Ich bin da eigentlich eher zuversichtlich. Denn es gibt letztlich einfach keine Alternative zur Familie.

DIEFURCHE: Die Vereinzelung, der Trend zum Single-Dasein, nimmt aber zu Wer braucht noch die Familie? stierlin: Singles schaffen sich meist ein Netzwerk von Freunden, wo man füreinander da ist, einspringen kann und so weiter. Viele sehen das als Alternative zur traditionellen Familie. Aber ich bin nicht sicher, ob das wirklich funktionieren wird. Denn auch das bringt Probleme mit sich. Und ich glaube, je instabiler und unvorhersehbarer die äußerlichen Verhältnisse für die Menschen werden, umso mehr wird die Sehnsucht nach einer existentiellen Stabilität wachsen. Und diese findet man nur dort, wo sie über Jahre und Jahrzehnte hinweg gewachsen ist, nämlich in einer Familie. Sicher produziert die moderne Wohlstandsgesellschaft viele Singles, die auch irgendwie verlernen, auf andere Rücksicht zu nehmen. Aber diese Menschen bezahlen meines Erachtens einen enormen Preis für dieses Dasein ohne Familie, nämlich die Isolation, wenn sie älter werden ...

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