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Wiederentdeckte Sittenlehre

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Wie die allgemeine Schulpflicht ist der schulische Religionsunterricht eine Erfindung der Aufklärung. Dies verwundert insoferne, als diese die jahrhundertelange Einheit von Kirche und Staat in Frage gestellt und die Trennung beider eingeleitet hat. In der österreichischen Variante des Josephinismus wurden der Kirche und dem Religionsunterricht die Aufgabe zugewiesen, die jungen Menschen zur Sittlichkeit zu erziehen, eine der Vernunft verpflichtete „Religionslehre" zu bieten und damit als staatserhaltend tätig zu sein. Eine „Religiös-sittliche Katechetik" von 1811 definiert die Aufgabe des Schulfaches Religion folgendermaßen: Religionslehre sollte vor allem Sittenlehre sein; die Sakramente soll der Katechet behandeln „mit Überspringung aller unfruchtbaren Streitigkeiten, zum Beispiel über die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi"; nur ihren Zweck und ihren rechten Gebrauch soll er erklären. 1 [insichtlich des Verfahrens wird ohne Einschränkung die „somatische Methode" vertreten: Der Zögling soll angeleitet werden, daß er „die in seinem Kopf liegenden sittlichen und religiösen Begriffe hervorlocke ... und sich so zur höchstmöglichen Stufe der sittlichen Cul-tur emporarbeite". (Zitiert nach Jungmann J. A., Katechetik, S. 26)

Der katholische Beligionsunter-richt hat sich erfolgreich dagegen gewehrt, Erfüllungsgehilfe einer aufklärerischen „Sitten- und Religionslehre" zu sein. Er wußte und weiß sich dem Verkündigungsauftrag der Kirche verpflichtet, versteht sich als Dienst an den jungen Menschen unter den Bedingungen der Schule und akzeptiert die Erwartungen der Gesellschaft, jene Werte zu

vermitteln, die für deren Erhalt und Entwicklung förderlich sind.

Im Bewußtsein der Bevölkerung freilich ist der Religionsunterricht noch immer die „Sitten- und Religionslehre" der Aufklärung und des Reichsvolksschulgesetzes von 1869, das der österreichischen Schule das Ziel der „sittlich-religiösen Erziehung" vorangestellt hat. Der „Zielparagraph" des Schulorganisations-gesetzes von 1962 hat diese Reihenfolge beibehalten und weitere Bildungsziele aus der humanistischen Tradition hinzugefügt; der erste vielzitierte Satz lautet: „Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken." (Paragraph 2) Auch in diesem Text schimmert noch immer die Tendenz durch, Religion als Mittel zur sittlichen Erziehung zu instrumentalisieren.

Für viele Eltern ist daher die Religionsnote eine Sittennote, der Religionsunterricht wird für die Erziehung von Unmündigen als wichtig erachtet, die Ausrichtung auf das kirchliche Leben erscheint jedoch vielen als schulfremd und überflüssig. Die Abmeldungen vom Religionsunterricht im Pflichtschulbereich erreichen demnach nur marginale Größen.

Anders sieht es in den weiterführenden Schulen aus: In den Berufsschulen ist mit Ausnahme von Tirol und Vorarlberg der Religionsunterricht Freigegenstand, zu dem

man sich eigens anmelden muß. In den mittleren und höheren Schulen melden sich relativ viele Schülerinnen und Schüler vom Pflichtgegenstand Religion ab, was ab dem 14. Lebensjahr laut Religionsunterrichtsgesetz möglich ist. In Deutschland und in anderen Staaten gibt es verschiedene Modelle eines Aiternati vunterrichtes für jene Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen. Die dort gemachten Erfahrungen sollte man sorgfältig mitbedenken, wenn nun in Osterreich Überlegungen in diese Richtung angestellt werden. So teilte mir beispielsweise ein führender Mann der Schulverwaltung Luxemburgs mit, daß der Ethik-Unterricht zu einer Schmutzkonkurrenz für den Religionsunterricht geworden sei, da man dessen Schüler abwerbe und keinerlei Anforderungen stelle.

Die Sorge vieler Professoren und Direktoren um die mangelnde Werterziehung bei den vom Religionsunterricht abgemeldeten und konfessionslosen Schülern ist nur zu berechtigt. Wenn es auch richtig ist,

diese als Unterrichtsprinzip allen Lehrern zur Aufgabe zu machen, so bedarf es doch der Thematisierung und eines dafür notwendigen Zeitrahmens, in dem der übliche Leistungsdruck der Schule wegfällt.

Ein grundsätzliches Dilemma bricht auf: Der weltanschaulich neutrale Staat, definiert in der Kelsen'schen Verfassung, setzt für seinen Restand und seine Forteilt wicklung einen Grundkonsens im Rereich der Werte voraus, ohne selbst solche zu produzieren. Dennoch weist er der Schule, die eine öffentliche Einrichtung ist, diese Aufgabe zu.

Im Bereich der sittlichen und religiösen Werte gibt er den Auftrag an die von ihm anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften weiter, stellt Unterrichtszeit und Räume zur Verfügung und bezahlt die Religionslehrer. W'oher soll nun der säkularisierte Staat plötzlich die Grundlagen für die W'erterziehung im Sinne des Paragraphen 2 Schul-organisationsgesetz schöpfen? Aus der Aufklärung, dem Liberalismus, dem gescheiterten Marxismus oder

dem neubelebten Nationalismus? Soll er den pragmatischen Weg der verschiedenen Erklärungen der Menschenrechte gehen und das Problem der Regründung vernachlässigen? Oder soll er doch Anleihen bei den großen Religionen machen? Hans Küng bemüht sich seit Jahren, in Abstimmung der großen Weltreligionen ein für alle verpflichtendes „W'eltethos" zu erarbeiten. Wäre das eine Basis? Eine an Konventionen orientierte „Lebenskunde" wird diesem Anliegen wohl kaum entsprechen.

Ein brennendes Problem bedarf einer Lösung, die nicjit leicht zu finden ist. Die Kirchen und ihre Pädagogen verfügen über einen reichen Schatz an Erfahrungen, den sie sicher zur Verfügung stellen werden, wenn man sie zur Mitarbeit einlädt. Aber primär muß der Staat aktiv werden, da es letztlich auch um seinen Bestand geht. Wenn Materialismus und Entsolidarisierung weiter fortschreiten, wenn in großen Teilen der Jugend keine tragfähigen Ideale mehr zu finden sind, dann kann das keinem Verantwortlichen gleichgültig sein.

Der Autor ist

Direktor der Religionspädagogischen Akademie der Erzdiözese Wien.

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