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Wir brauchen keine Wächter

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Uralt ist die Frage nach den Funktionen des Staates in den Bereichen der Wissenschaft, der Kunst, der Philosophie, der Religion.

Plato, der griechische Philosoph, hat vor mehr als 2000 Jahren dem Staatsdenken bei der Beantwortung dieser Frage Richtung gegeben. Er verlangt, der Staat müsse Einflüsse der Kunst und der Literatur abwehren, die dem staatlichen Gemeinwesen abträglich sind, und der Staat müsse Musik und Literatur einer staatlichen Zensur unterwerfen, ehe sie ihren Platz in der Erziehung seiner politischen Elite, der Aristokratie, finden.

Plato hat damit zwei wichtige Merkmale der Beziehungen von Staat und Kultur definiert, zugleich aber auch jene beiden Streitpunkte berührt, um die es in den folgenden Jahrhunderten der abendländischen Geschichte immer wieder gegangen ist.

• Der Staat hat das Recht, Wächter der Kultur aufzustellen und diese Wächter zu lehren.

• Der Staat verzichtet im übrigen, das kulturelle Schaffen zu inspirieren, zu dirigieren, zu reglementieren.

Den Einwand, der gegen dieses System der Beziehungen von Staat und Kultur angebracht ist, haben die Römer gestellt. QUIS CUSTODIET CUSTODES? Wer bewacht die staatlichen Wächter der Kultur und wer lehrt ihre Lehrer? Indem die Menschen diesem Einwand nachgehen, geraten sie in einen Kreislauf, bei dessen Verfolgung es ihr Bestreben wird, diesen Wächtern aus dem Wege zu gehen. In dieser Hinsicht verdient der berühmte Ausspruch Hegels Beachtung, wonach die Geschichte eine Geschichte der Freiheit sei, eines Kampfes um die Freiheit von den Wächtern.

Eine Kulturpolitik der Mitte zwischen einem extremen Individualismus und einem extremen Kollektivismus müßte sich etwa in folgender Richtung bewegen:

Dem Staat obliegt der Schutz und die Förderung der Möglichkeiten künstlerischen, kultu- relleti’Schaffens.’Er möge dabei imtaierbedenken; daß Kultur und Kulturpolitik zwer ganz verschiedene Anliegen sind.

Die freie Gesellschaft steht und fällt im Kampf um die Freiheit. Die Schwächung dieses Willens zur Freiheit von innen her, die Erschlaffung des Willens, diese Freiheit zu besitzen, ist heute eine größere Gefahr als die Bedrohung aus der freiheitsfeindlichen Umwelt.

Daraus ergibt sich für die staatliche Kulturpolitik eine Wirksamkeit nach dem Subsidiaritätsprinzip.

Die Kulturverwaltung, die es im Alltag mit der Nutzanwendung aus diesen Grundsätzen zu tun hat, ist da mancher Versuchung ausgesetzt.

Eine Gefahr besteht darin, daß die Kulturschaffenden selbst den Staat als Wächter und Zensor reklamieren. Einerseits, um ihn als Bundesgenossen gegen konkurrierende Bestrebungen, Kunstrichtungen u. a. m. für sich zu haben und anderseits, um von ihm eine staatliche Punzie- rung als Gütezeichen der eigenen Leistung zu haben. Beide Verlangen gehen weit über die Pflicht des Staates hinaus, das kulturelle Leben zu schützen, zu fördern und anzuerkennen.

Alle Erwägungen zugunsten der kulturellen Freiheit haben den Satz gegen sich, wonach die Finanziers der kulturellen Freiheit — also vor allem der Staat selbst — nach Maßgabe der materiellen Mittel auch den geistigen Zuschnitt oder doch die Proportionen des kulturellen Lebens bestimmen können.

Diesem Satz kommt in Oesterreich eine folgenschwere Bedeutung zu. Etwa zwei Drittel des Nationaleinkommens werden ja von staatlichen Instanzen kontrolliert und dirigiert. Daher ist der Vorwurf, daß Finanzierung notwendigerweise Sacheinfluß bedeutet, nicht leicht zu entkräften.

Natürlich gibt es auch in unseren Tagen neben den staatlichen Geldgebern nichtstaatliche, so zum Beispiel die großen Foundations in den USA, die Ford-Foundation, die Rockefeller- Foundation u. a. m.

Die meisten dieser nichtstaatlichen Förderer unterscheiden sich von dem Mäzenen von einst dadurch, daß sie ihre kulturfördernde Tätigkeit in der gleichen unpersönlichen Form ausüben, wie dies der Staat tut. Sie sind — so wie der Staat — auf eine bürokratische Verwaltung angewiesen. Auf die Möglichkeiten, diese nichtstaatlichen Förderer unter den Einfluß politischer und anderer Interessentengruppen zu bringen, soll hier nicht näher eingegangen werden. Indessen bringen diese modernen nichtstaatlichen Förderer ein neues Element ins Spiel: Sie brechen das staatliche Monopol der Kulturfinanzierung.

Zieht man aus dem eben Gesagten den Schluß, dann kommt man zu der Erkenntnis, daß bei der gegenwärtigen Mischform der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der freien Welt die Existenz des einzelnen von kollektiven Einrichtungen und Methoden weitgehend abhängig sein muß und daß für die Verteidigung der geistigen Freiheit des einzelnen die individuellen Kräfte und Fähigkeiten nicht mehr immer ausreichen. ~

Es bleibt den Erwägungen eines jeden anheimgegeben, diesen Zustand als sachnot- wendig anzuerkennen, ihn nolens volens hinzunehmen oder dagegen anzukämpfen. Auch für die gegenwärtige Situation gilt der Satz, daß die Geschichte die Geschichte der Freiheit ist. Niemand wird indes in der Lage sein — wo immer sein Standpunkt sei —, darüber hinwegzusehen, was die eigentliche Krisis der Geistigen und des Geistigen in unseren Tagen ausmacht:

Ich meine deren gefährdete Existenz zwischen einem anonymen Funktionärtum und der modernen Massengesellschaft. Der moderne Staat ist sozial. Er hat sich der Hinterhöfe angenommen, die das Mäzenatentum von einst zuweilen vergessen hat. Man dürfte aber nicht in den Fehler verfallen, in der Lösung der sozialen Frage der geistig Schaffenden auch die Lösung der Krisis des geistigen Lebens zu erblicken. Zuletzt vollzieht sich das Wagnis des großartigen künstlerischen Schaffens in einer gnadenlosen Einsamkeit und Verlassenheit, in der auch die vollendete Angliederung eines leistungsfähigen Sozialsystems oft keine Hilfestellung geben kann.

So bleiben nun noch wenige zusammenfassende Folgerungen zu ziehen:

• Die Finanzierung der kulturellen Freiheit obliegt heute in erster Linie dem Staat. Eine Aenderung dieses Zustandes würde von umstürzenden Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung abhängen.

• Die Gefahr der Sachbeeinflussung durch diese Art der Finanzierung ist gegeben. Diese Gefahr kann abgeschwächt werden, wenn im Staate ein politisches System herrscht, das vom Staate unabhängige kulturelle Autonomiebereiche anerkennt und der Gesellschaft die Möglichkeit einräumt, an Stelle der staatlichen Regulierung das Prinzip der Selbstregulierung zur Entfaltung zu bringen.

• Für die Verwaltungsreform der Zukunft sollte die staatliche Kulturpolitik den Abbau des Behördenapparates und die Ausgestaltung der Selbstverwaltung in den verschiedenen Kulturbereichen anmelden. Dies mit dem Ziel der Selbstfinanzierung unabhängiger kultureller Gemeinschaften.

• Bis dahin wäre die Ausstattung der staatlichen Kulturverwaltung mit sachkundigen Ausschüssen zu fördern. Ansätze dazu sind auf der Ebene des Bundes vorhanden: die Ständige pädagogische Konferenz, der Akademische Rat, der Kunstsenat, der Elternbeirat beim Unterrichtsministerium u. a. m. Diese Gremien von Sachverständigen könnten ein Mittel der Verbindung und des Ausgleiches zwischen gegensätzlichen politischen Faktoren sein — dies mit dem Ziel, die Verwaltung aus der heute oft beobachteten zwiespältigen Lage eines quasipolitischen Expertentums zu befreien. Maßnahmen in dieser Richtung würden zur Entpolitisierung des kulturellen Lebens beitragen.

• All dies vorausgesetzt, muß festgestellt werden, daß die derzeitige staatliche Finanzierung der kulturellen Freiheit den materiellen Lebensbedingungen des kulturellen Lebens nicht entspricht. Das Prinzip der Freiheit wird im Bereiche der Kultur keine Lebenswirklichkeit besitzen, solange die öffentliche MeiAmg, die politische Willensbildung, die Gesetzgebung und die Verwaltung den Erfordernissen eines Kulturstaates nicht gerecht wird.

. Um dem näherzukommen, muß eines allen Menschen in Oesterreich bewußt gemacht werden: daß der Staat selbst, den wir in diesen Ausführungen so oft als Wächter, Finanzier und Counterpart der Kultur zu erkennen glaubten, eine der hervorragendsten Erscheinungen menschlicher Kultur ist. In knapp hundert Jahren hat die Menschheit in Europa die Wandlung dieses Staates vom patriarchalischen Obrigkeitsstaat zur parlamentarischen Demokratie erlebt. In der gleichen Zeit ist aus schweren wirtschaftlichen und sozialen Kämpfen ein Sozialstaat entstanden. Ueberall haben sich wirtschaftliche, politische und kulturelle Veränderungen vollzogen, so daß es unseren Vorvätern schwerfallen würde, den Staat ihrer Enkel als die Fortentwicklung des ihnen vertraut gewesenen Gemeinwesens zu erkennen.

Immer aufs neue muß erstrebt werden: der Kulturstaat, dessen Sachleistung nicht die Kultur inspiriert, dirigiert, reguliert — sondern der selbst unter den ständigen Impulsen eines reichen kulturellen Lebens die Höhe und die reiche Entfaltung seiner Wirklichkeit erfährt. Wenn wir das als geistige Menschen fordern, dann müssen wir uns darüber im klaren sein, daß eine solche Wendung bei Abwesenheit der eigentlichen Kulturträger der Nation unter den gemeinschaftsbildenden Kräften nicht geschehen könnte.

In dem gegenwärtigen Transitorium, in dem sich kritische Spätsituationen eines sich vollendenden geschichtlichen Zeitraumes mit unfertigen -jr,und • daher; ft. unverständlichen -und bedrohlichen — Neuformen vermischen, ist die Front des geistigen Lebens auf die Geistigen zuTÜckgeworfen. Wenn sie nicht für die Erhöhung des Bewußtseins vom kulturellen Anliegen dieser Zeit Zeugnis ablegen würden, wer möchte sonst Zeuge sein, wen würde man hören? Indem ich diesen Satz vom Engagement der Geistigen ausspreche, glaube ich fast den Nachhall der Worte Goethes zu vernehmen:

Ein garstig Liedl Pfui! Ein politisch Lied! Ein leidig Lied!

Der Dichterfürst, der den „Faust” geschrieben hat, war herzoglich sachsen-weimarischer Staatsminister und Geheimer Rat zugleich. Es gab also Zeiten, in denen der Minister an der Politik wohl keine Freude gehabt hat. Vielleicht geschah es in solchen Zeitläuften, daß er — in obigem Text fortfahrend — den Brand- ner in Auerbachs Keller sagen läßt: Dank Gott für jeden Morgen, daß ihr nicht braucht fürs Römische Reich zu sorgen!

Ein Stoßseufzer für uns alle. Ein gutes Zitat für alle, die Goethe zitieren, um auf die niedere Ebene herabzusehen, auf der man sich mit derlei und anderen Sorgen herumschlagen muß.

Und doch ist es so, daß auch das Politische, so wie die Technik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kunst, ein Bereich des kulturellen Lebens ist. Würde man das Politische aus diesem Zusammenhang lösen, dann müßte die politische Macht zum Unheil führen, weil ihr die Verbindung mit dem Geist abginge.

Es müssen sich also auch geistige Menschen im richtigen Sinne mit dem Element des Politischen beschäftigen.

Die Beschäftigung mit dem’ Staate ist heute jedermanns Sache.

Wir leben ja nicht mehr im patriarchalischen Zeitalter, sondern im demokratischen.

Der Inhalt der Beziehungen Staat und Kultur ist heute eine Realität im Lebensumkreis eines jeden einzelnen. Schulische und außerschulische Erziehung, die Ergebnisse der Forschung, das religöse Leben, Kunst in jedem Bereich — ob monumental oder als bescheidene Teilhaberschaft am Gemeingut „Oesterreichische Kultur” — gehen jeden an. Es gibt kaum einen Tag, der uns nicht eine Stellungnahme, eine Entscheidung auferlegt. Die Präsenz kultureller Fragen ist eben nicht nur ein Anzeichen der Krisis, sondern zumeist auch das Sinnfälligwerden des Lebensrhythmus der Kultur.

Wir brauchen alle den Kulturstaat — um leben zu können!

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