"Wir haben eine Mission"

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Jorma Lempinen, Präsident des Finnischen Schulleiterverbandes im Gespräch.

Die Furche: Sie nennen Vertrauen als wichtigsten Wert in jeder Bildungsdebatte und betonen die Wertschätzung, die in Ihrem Land den Lehrern entgegengebracht wird. Was bedeutet es konkret, dass in Finnland, dem zweimaligen Pisa-Sieger, Lehrer als "Lichter der Gesellschaft" gesehen werden?

Jorma Lempinen: "Vertrauen" ist der zentrale Begriff unseres Systems. Die Vertrauenskette beginnt beim Staat, der den Gemeinden als Schulträgern vertraut. Diese vertrauen wiederum den Schulen, gemeint sind die Schulleiter und Lehrer. Auch die Eltern vertrauen den Lehrern ihrer Kinder, begegnen ihnen mit Hochachtung. Diese Vertrauenskette ist die Grundlage der finnischen Bildungspolitik. Wir sind eine kleine Nation, wir müssen einfach Sorge dafür tragen, dass sich die jungen Menschen in unserem Land optimal entfalten können: dazu brauchen sie Lehrer, die sie mögen und denen sie vertrauen können. Die finnische Lehrerschaft ist schlechter bezahlt als etwa die deutsche oder österreichische. Aber trotz der schlechten Bezahlung wollen jährlich über 1000 Kandidaten diesen Beruf ergreifen: 150 davon wurden letztes Jahr an der Universität Helsinki aufgenommen.

Die Furche: Sie fassten die Philosophie und Praxis finnischer Schulreformen unter dem Titel "Du kannst es, mach es" zusammen. Ist das nicht ein großer Vertrauensvorschuss?

Lempinen: Wir haben in Finnland bekanntlich das System der Ganztagsschule, die Kinder kommen um acht Uhr in die Schule und gehen um 15 bzw. 16 Uhr nach Hause. In dieser Zeit haben unsere Lehrer viele Gelegenheiten, ihr Interesse an jedem einzelnen Schüler und an jeder Schülerin zu zeigen. Wir legen Wert auf ethische Werte, wir setzen auf Förderung anstelle von Auslese. Das bedeutet also, dass wir möglichst wenige Schüler aus dem System herausfallen lassen.

Die Furche: Wo sehen Sie Nachteile dieses Systems?

Lempinen: Die Folge davon ist einerseits, dass wir sehr wenige Sonderschulen haben; andererseits sind unsere Lehrer von verhaltensauffälligen Kindern sehr gefordert. Wir tun alles, damit alle Schüler in die gleiche Schule gehen können. Die Gemeinden leiden auch bei uns unter finanziellen Engpässen, so sind auch bei uns die Klassen größer, als wir vom pädagogischen Standpunkt her möchten. 25 bis 30 Kinder in einer Klasse ist bei den Siebenjährigen keine Seltenheit. Wir mussten hier Auswege finden. So genannte Schulassistenten begleiten nun die Klassen, sind für die Schüler unterstützend da. Sie haben keine Lehrerausbildung, aber Abitur sowie eine sechs bis acht Monate dauernde Ausbildung. Sie sehen, unsere guten Pisa-Ergebnisse haben wir mit großen Klassen geschafft, aber immerhin gibt es pro Klasse einen Lehrer und einen Assistenten. Ich will auch nicht verschweigen, dass es für Schulleiter und Lehrer schwierig ist, so starke Klassen zu begleiten, gerade wenn die Kinder in die Pubertät kommen und kritische Phasen durchleben.

Die Furche: Sie sind selbst seit den 70er Jahren Schulleiter und skizzieren ein sehr realistisches Bild des finnischen Schulsystems. Ist in Ihrem System die Frage "Förderung der Hochbegabten" überhaupt Thema?

Lempinen: Ich weiß noch, dass es Anfang der 70er Jahre für viele Eltern schwierig war, zu verstehen, wie begabte und weniger begabte Kinder miteinander in den Gemeinschaftsschulen lernen können. Es stimmt noch immer, dass wir stark auf Lernschwierigkeiten achten und reagieren, dabei kann die Gruppe der hoch begabten Schüler zu kurz kommen.

Aber wir müssen uns auch eingestehen, dass die Schule kein Monopol auf das Lernen hat, es gibt außerhalb der Schule viele anderen Lernumgebungen. Kinder lernen durch Internet, durch Medien. Bei uns führt jede Gemeinde ein sehr gut ausgestattete Bibliothek, außerdem hat jede finnische Familie mindestens eine Zeitung abonniert. Dazu kommt noch, dass wir überzeugt sind, dass jede Schule - egal ob auf dem Land oder in der Stadt - eine Mission, einen Entwicklungsplan haben muss: wir wollen kein Kind durch den Rost fallen lassen.

Das Gespräch führte Christina Gastager-Repolust.

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