"Wir müssen künftig schneller eingreifen"

19451960198020002020

Wie die muslimische Community in Niederösterreich mit radikalisierten Jugendlichen umgeht, erklärt Mehmet Isik.

19451960198020002020

Wie die muslimische Community in Niederösterreich mit radikalisierten Jugendlichen umgeht, erklärt Mehmet Isik.

Werbung
Werbung
Werbung

Als islamischer Seelsorger arbeitet Mehmet Isik seit 15 Jahren mit straffälligen Muslimen. Der Vorsitzende der islamischen Religionsgemeinde Niederösterreich über dringend nötige Maßnahmen zur Prävention und Deradikalisierung.

DIE FURCHE: Wie finden Sie einen Zugang zu Leuten mit Radikalisierungstendenz?

Mehmet Isik: In der Schule erreichen die muslimischen Religionspädagogen die Jugendlichen bis zum 15. Lebensjahr. Wir haben die Religionslehrer beauftragt, die Jugendlichen zu beobachten, auffälliges Verhalten zu dokumentieren, die Schulleitung und uns zu informieren. Wir versuchen dann, mit den Eltern zu sprechen. Wenn wir nicht mehr weiter wissen, können wir den Fall nur an den Verfassungsschutz weitergeben. Allerdings besuchen nur 60 bis 70 Prozent der muslimischen Schüler den Religionsunterricht, an den Rest kommen wir nicht heran.

DIE FURCHE: Wie erreichen Sie die Leute nach der Schulpflicht?

Isik: An jene, die nicht mehr die Schule besuchen, kommen wir durch die islamischen Vereine heran. Wenn sie auch in den Moscheen nicht auftreten, können wir sie nicht erfassen. Bei vielen Jugendlichen kennen wir den Freundeskreis und können eine Nachricht an die Freunde rausgeben, dass sie uns bei Problemen verständigen sollen. Erwachsene sind für uns schwerer greifbar.

DIE FURCHE: Wie oft haben Sie in Niederösterreich mit Radikalisierungsfällen zu tun?

Isik: Wir beobachten die Jugendlichen seit vier Jahren. Bisher gab es drei Ernstfälle, die wir an den Verfassungsschutz weitergeben mussten. Zwei der Burschen sind erst 14 Jahre alt, ein weiterer ist 16. Insgesamt sind uns in Niederösterreich etwa 20 radikalisierte Personen bekannt, die alle jugendlich sind. Davon sind etwa 30 Prozent Mädchen. Leider können wir mit den Eltern nur zusammenarbeiten, wenn diese offen sind.

DIE FURCHE: Welche Leute können am ehesten auf radikalisierte Jugendliche einwirken?

Isik: Chancen haben nur jene mit muslimischem Hintergrund und großem Wissen über den Islam: Imame, muslimische Religionspädagogen oder Seelsorger. Man kann nur mit den Argumenten des Korans und des Propheten auf diese Leute zugehen. Die Jugendlichen nehmen Nicht-Muslime, etwa Lehrkräfte oder Schuldirektoren, gar nicht ernst. Es sind aber auch nicht alle Imame pädagogisch und persönlich geeignet, mit den Jugendlichen zu sprechen. Von den 56 Imamen in Niederösterreich sind etwa 30 für Gespräche mit Jugendlichen geeignet.

DIE FURCHE: Wie gehen Sie nun konkret mit auffälligen Jugendlichen um?

Isik: In der Regel treffen wir uns mindestens zwei Mal wöchentlich, zehn Wochen reichen meist. Das basiert aber auf der Freiwilligkeit der Jugendlichen, sonst kann man nichts tun. Bei einem konvertierten Niederösterreicher dauerte die Radikalisierung nur ein halbes Jahr, seine Mutter wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Wir sind noch immer in Gesprächen, er ist derzeit sehr labil.

DIE FURCHE: Wie rüsten Sie sich also für das wachsende Problem der Radikalisierung?

Isik: Früher haben wir nur mit auffälligen Schülern über Radikalisierung gesprochen, künftig müssen wir mit allen darüber sprechen. Auch die Imame müssen sich in der Freitagspredigt damit auseinandersetzen. Auch haben wir derzeit noch keine weibliche Ansprechperson in Niederösterreich. Ich hoffe, wir finden eine muslimische Religionslehrerin, die einen besseren Zugang zu den Mädchen hat. Die Radikalisierung kommt sehr schnell, wenn ich bedenke, wie viele Fälle wir heute alleine in Niederösterreich haben. Wir müssen präventiver und schneller eingreifen, damit die Leute nicht schon radikalisiert oder gar am Weg ins Kampfgebiet sind, bis wir überhaupt den Ernst der Lage erkennen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung