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Wirtschaftskommentar

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Die durch die Nationalratswahl neugeschaffenen Mehrheitsverhält- nisse wurden zunächst vielfach als Garantie einer erfolgreichen Regie- rungs- und Parlamenfsarbeit gepriesen, die Einparteienregierung der ÖVP verstärkte den Eindruck, daß nun alles viel rascher erledigt werden könnte. Angesichts der Diskussion, die aber nun um die Zusammensetzung beziehungsweise um die Umgestaltung und das Stimmrecht in der Paritätischen Kommission entbrannt ist, muß überlegt werden, ob nicht zumindest im Bereich der Wirtschaftspolitik die Institutionalisierung und Fixierung der Form der Willensbildung bereits so weit fortgeschritten ist, daß selbst eine absolute Mehrheit im Parlament und eine Einparteienregierung vor faktisch schwer überbrückbare Hindernisse gestellt werden? Anders ausgedrückt: Wie stark ist das Mifspracherechf der Verbände, und inwieweit können sie auch unter den geänderten Mehrheitsverhältnissen an wirtschaftspolitischen Entscheidungen mifwirken und diesen ihren Stempel aufdrücken?

Die Mitwirkung der Interessenvertretungen und Verbände ist in Österreich nichts Neues. Zu zahlreichen, wenn nicht durch Gesetz, so in Übereinkommen formal verankerten Mit- spracherechfen der Interessenvertretungen in Gesetzgebung und Verwaltung, die bloß aufzuzählen ein Buch füllen würde, kommen noch die zwar informellen, aber deswegen nicht weniger engen und bedeutsamen Beziehungen zwischen Interessenverbänden und jeweils nahestehender Partei. Selbst wenn man sich blofj auf die formal fundierten Mitspracherechfe nur der bedeutendsten der Verbände, Gewerkschaftsbund und Kammer der gewerblichen Wirtschaft, beschränkt, mufj man fesfstellen, daß das Clearing der Meinungen, dessen Ergebnis der einheitliche wirtschaftspolitische Wille des Gesetzgebers sein soll, nicht nur nach den durch die Verfassung vorgegebenen demokratischen Spielregeln abläuft. Parallel und vorgelagert zu dem Entscheidungsforum des Parlaments findet ein Interessenclearing der beiden genannten Verbände statt, dessen Ergebnisse von dem an sich allein berufenen gesetzgebenden Organ weitestgehend akzeptiert werden. Niemand ist heute stark genug, um das bagatellisieren zu können, worüber die „Sozialpartner“ einer Meinung sind.

Was nun aber die eingangs aufgeworfene Frage so bedeutsam macht, ist weniger diese Erweiterung des Enfscheidungsmechanismus als solche, sondern die Tatsache, daß in diesem sekundären Entscheidungsmechanismus die Willensbildung in einer spezifisch anderen Form vor sich geht. Nicht das demokratisch als selbstverständlich tradierte Mehrheitsprinzip, sondern das Konsensualprin- zip, wonach keine Entscheidung gegen den Willen auch nur eines der Beteiligten durchgesefzt wird, dominiert (I).

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Die Entwicklung des Mitspra- cherechts der Verbände als solches wird ja schon lange aufmerksam verfolgt. Dabei stehen vor allem grundsätzliche rechtliche Erwägungen im Vordergrund. Der Kammerausschuß der konstituierenden Nationalversammlung der Ersten Republik hat bereits in seinem Bericht zur Regierungsvorlage über das nachmalige Arbeiterkammergesetz des Jahres 1920 ausdrücklich hervorgehoben: Bei Annahme dieses Gesetzentwurfes und Schaffung einer ähnlichen Berufsver- fretung für die Landwirtschaft wären „alle Voraussetzungen gewonnen, um den auf breifer demokratischer Grundlage beruhenden Körper der erwerbstätigen Bevölkerung eine besondere, nach den Hauptberufszweigen gegliederte Teilnahme an der Wirfschaftsverwaltung zu sichern”. Damit wurde die Teilnahme von Interessenvertretungen an der Wirtschaftsverwaltung als Verwirklichung demokratischer Prinzipien postuliert. Im Gegensatz dazu wird die in der Folge eingetrefene Entwicklung des Mif- spracherechts der Verbände vom Standpunkt der Verfassung aus wesentlich zurückhaltender beurteilt. Die Kritik findet etliche Ansatzpunkte. Wurde beispielsweise noch 1929 in einer Verfassungsgesetznovelle ein eigener „Ständeraf“ vorgesehen, so erfolgte 1951 die Einrichtung eines „Wirtschaftsdirektoriums" der Bundesregierung, mit welcher das bis dahin beim Abschluß der Preis-Lohn-Abkom- men im gesetzfreien Raum tätig gewesene, von den Interessenvertretungen beschickte Gremium in die Rechtsordnung eingebaut werden sollte, auf der Grundlage eines einfachen Gesetzes. In diesem wurde dem Wirf- schaffsdirektorium die Koordinierung der Wirtschaftslenkungsmaßnahmen übertragen und der Bundesregierung nur die subsidiäre Entscheidung für den Fall zugestanden, daß die im Rahmen dieses Direktoriums erforderliche Sfimmeneinhelligkeit (I) nicht erzielt werde. Die Kompetenz des Direk toriums erfaßte, wenngleich „im Rahmen der bestehenden Gesetze", unter anderem die Aufstellung von Grundsätzen über die Rohstofflenkung, Koordinierung der mit Fragen des Außenhandels und der Devisenbewirtschaftung befaßten Behörden sowie Koordinierung der Preispolitik mit den im Interesse der Gesamtwirtschaft liegenden Maßnahmen.

Allerdings ließ man dieses Gesetz auslaufen, nachdem der Verfassungsgerichtshof (mit Erkenntnis vom 17. 6. 1952, Slg. Nr. 2323) feststellte, daß eine Bindung an die Beschlüsse des Wirtschaftsdirektoriums gegen das nach Art. 69 BVG den Ministern zukommende freie Entscheidungsrecht verstoßt. Der faktische Nachfolger dieses Gremiums, die Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen, ist vor solchen Anfechtungen sicher, allerdings aus einem ganz speziellen Grund, den der gegenwärtige Justizminister, Professor Klecafsky, einmal wie folgt umriß: „Der Mangel einer gesetzlichen Basis schützt sie davor, daß sie der Verfassungsgerichtshof dieser Basis beraubt."

Für unsere konkrete Frage ist aber folgendes von noch unmittelbarer Bedeutung: Im skizzierten Enfscheidungsmechanismus bestehen recht enge Beziehungen einerseits zwischen der Sozialistischen Partei und dem Gewerkschaffsbund, anderseifs zwischen der Volkspartei und der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft. Wenn nun eine der beiden Parteien in der zweiten Stufe dieser Maschinerie der Willensbildung, dem organisatorisch auf dem Mehrheitsprinzip fundierten Parlament, in die Minderheit gedrängt wird, wie das jetzt der Fall ist, ist es vom taktischen Standpunkt aus die natürlichste Sache der Welf, nach Möglichkeit das Schwergewicht der Entscheidung auf die erste Stufe zu verlagern, in der auf Grund des Konsensualprinzips die Mehrheifsverhälfnisse des Parlaments zwar nicht gerade irrelevant, aber letztlich ja doch von bloß sekundärer Bedeutung sind. Wenn das eine Klavier verstimmt ist, spielt man auf dem anderen um so mehr.

Es soll hier nicht untersucht werden, in welchen Bereichen die Mitspracherechfe der Verbände dergestalt .formuliert sind, daß sie einem faktischen Vetorecht gleichkommen, und in welchen nicht. Das Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht der Verbände beruht, ganz abgesehen von allen Kommissionen, Beiräten, Begutachtungsvorschriften usw. letzten Endes in einer völlig außerhalb der Verfassung stehenden und, wie das Beispiel von Wirtschaftsdirektorium und Paritätischer Kommission zeigen sollte, mittels dieser auch kaum zu fixierenden Wirklichkeit — aber, und darum geht es, in einer eminent politischen Wirklichkeit. Man braucht nicht unbedingt von einer neuen Verfassungwirklichkeit zu sprechen. Vielleicht könnte man eher sagen, der politische Raum als solcher, in dessen Atmosphäre alle Entscheidungen erst heranreifen, habe sich in der erwähnten Form etabliert.

Daraus ergeben sich für die Wirtschaftspolitik, die von einer wie immer zusammengesetzten Regierung unter gegebenen parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen zu formulieren und durchzusetzen ist, nicht unbedeutende Konsequenzen: Formal mag es immerhin möglich sein, sich über Konteraktionen der Verbände hinwegzusef- zen, wenn auch mit vermutlich größeren Schwierigkeiten, als in Anbefracht einer absoluten parlamentarischen Mehrheit prima vista zu erwarten. Politisch gesehen wäre aber eine Negierung gerade eines so hoch institutionalisierten vorparlamentarischen Raumes mehr als ungeschickt, könnten sie doch zu Situationen führen, die in Österreich sofort die schlimmsten traumatischen Assoziationen auslösen und damit eine Lage schaffen würde, die sich wohl auch eine noch so klar führende Partei einfach nicht leisten kann.

Bei der Abschätzung der sich daraus ergebenden faktischen Schwierigkeiten wirtschaftspolitischer Effizienz in den nächsten Jahren ist freilich umgekehrt zu berücksichtigen, daß im Rahmen des Gewerkschaftsbundes die Fraktion christlicher Gewerkschafter einen ja nicht unbeträchtlichen builf-in-sfabilizer darstellt, der zum mindesten die Eventualität einer ungehemmten Obstruktion illusorisch machen kann. Dennoch verbleibt als Fazit, daß der Bewegungsspielplan wirtschaftspolitischer Maßnahmen erheblich enger abgegrenzt ist, als es vom Standpunkt der Parlamenfsmehr- heit erscheinen mag. In Österreich hat sich der so nebulöse, unwägbare und doch so entscheidende politische Raum gleichsam kristallisiert. Das dabei vorherrschende besondere Prinzip der Willensbildung ist nur Ausdruck der Tatsache, daß er dadurch nicht leichter manipulierbar würde.

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